berliner szenen

Bessere Sachen seit Corona

In der S-Bahn mir gegenüber setzt sich eine alte Frau mit einem Koffertrolley und zwei großen Taschen in den Dreiersitz. Sie ist dick angezogen, trägt unter einem offenen Mantel noch eine Winterjacke, ein Stirnband über ihren grauen, langen Haaren und darüber eine Mütze. Ihre Handschuhe sind an den Fingerkuppen abgeschnitten. Sie reibt die Hände aneinander, pustet durch ihre Maske hi­nein und guckt mich an: „Es ist so kalt geworden.“ Ich nicke.

Sie kramt jetzt in einer Tasche und fördert eine etwas lädierte Brille an einer Lesekette hervor, setzt sie sich auf die Nase und nimmt zwei Kleidungsstücke aus der Tasche. Das eine ist eine lila Strickjacke. Sie faltet die Strickjacke auseinander und hält sie eine Armlänge von sich, begutachtet sie, prüft die Knöpfe, sucht nach dem Waschzettel und studiert ihn eingängig. Die Art, wie sie auf den Waschzettel sieht, erinnert mich an meine Großmutter.

Jetzt legt sie die Strickjacke wieder ordentlich zusammen und packt diese in die Tasche zurück. Der Pullover auf ihrem Schoß ist hell und aus Mohair. Viele feine Härchen stehen von der Wolle ab. Sie lacht mich an, streckt mir den Pulli entgegen: „Fühlen Sie mal.“

Ich fühle mit den Fingerspitzen und sage: „Ganz weich.“

Sie nickt. „Der hält bestimmt warm.“ Sie fährt mit den Fingern darüber: „Die Sachen wollte niemand mehr haben, und ich konnte mir das alles aussuchen.“ Sie zeigt auf ihre Taschen, steht auf und zeigt mir die Jacke, die sie unter dem zu großen Mantel trägt. „Gucken Sie, sogar diese Jacke. Ist doch doll, was?“ Ich nicke. „Sehr schöne Sachen.“

„Ja“, sagt die Frau. „Seit Corona bekommt man viel bessere Sachen. Die Leute sortieren alles aus. Und ich habe dann das Glück.“ Sie lächelt wieder und hinter ihrer Brille sind die Augen groß.

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 8.12.2020

berliner szenen

Gesäßtaschenträger, wie?
Kolumne Berlin Viral

Ich sitze mit Maske am Tresen bei einem Handydoktor am Rathaus Steglitz und warte darauf, dass mein altes Handy einen neuen Akku bekommt. Während ich warte, will ich zweimal meinem Impuls folgen, mein Handy aus der Tasche zu ziehen und durch die sozialen Netzwerke zu scrollen, um die Wartezeit zu überbrücken. Geht ja nicht, stelle ich zweimal fest. Das Handy ist grad in Behandlung.

Ich sitze aber gern hier. Es ist warm, die drei Doktoren hinterm Tresen sind ziemlich lustig und schnell in ihren Analysen, arbeiten und suchen mit Pinzetten winzige Teilchen, während sie mich unterhalten. Andauernd kommt einer rein und erzählt eine Geschichte über sein Handy. Die Geschichten passen zu den Besitzern.

Einer, der auffallend müde und etwas träge aus der Wäsche guckt, sagt: „Also meins geht immer aus und fährt nicht mehr hoch.“

Der Oberarzt zieht eine Augenbraue in die Höhe und sagt: „Gesäßtaschenträger, wie?“ Der Junge fühlt sich ertappt. „Na ja, kann schon mal passieren.“

„Krumm wie ’ne Banane. Da hat sich echt alles verzogen“, zeigt der Oberarzt und schüttelt bedenklich den Kopf. „Ist genauso, als würdest du immer nur auf dem Sofa chillen. Wirste auch krumm.“ Der Junge guckt betroffen. Ein anderer steht verwirrt im Laden herum. „Wie kann ich helfen?“, fragt der jüngste Doktor. „Also, mein Handy fuhr runter und nicht wieder hoch, hab es 24 Stunden geladen, aber es geht nichts mehr.“ Er reicht das Handy herüber, auf dem sich das Display in die Höhe hebt.

„Du magst dein Leben nicht, ne?“, sagt der jüngste Doktor. Stille, alle gucken ihn an. Der Oberarzt übersetzt: „Was er meint, ist, der Akku ist gequollen, das sieht man von hier aus schon, und wenn du das dann ewig lädst, ist es gefährlich.“

„Wie“, sagt der Typ. „Na, es fliegt dir um die Ohren.“ Der dritte Doktor, wahrscheinlich der Chefarzt, schaltet sich ein: „Bist so’n Fauler, ne? Lädst es immer über Nacht?“

„Hm schon“, sagt der Junge. „Davon kriegste den Akku auf sicher kaputt. Nie länger dranhängen als nötig, am besten nur am Tag.“

„Ach, das wusste ich auch nicht“, sage ich. „Ja, hier lernste was fürs Leben“, sagt der Chef und lacht. Etwas weiter neben mir steht inzwischen einer in grüner Wachstuchjacke, von denen ich dachte, sie wären seit den 1990ern ausgestorben. Das Telefon klingelt. Der jüngste Doktor geht ran und sagt: „Wie? Ja, da müssen Se sich an Apple TV wenden. Nee, da kann ich nix machen. Ein Probeabo müssen Se bei denen kündigen, nich bei uns.“ Wachstuchjacke und ich müssen lachen.

Der junge Doktor legt auf und sagt: „Wieder’n Anruf für ’ne Reality-Show. So wie letztens. Da stand einer vorm Regal im Kaufhaus, ruft uns an und fragt: Können Sie mir sagen, welche Handyhülle ich kaufen muss?“ Wir lachen wieder. „Echt wahr, im Lockdown ist es noch schlimmer geworden“, meint der Chefarzt jetzt, „was da für Fragen kommen. Da brummt mir am Abend so der Kopf, dass ich nicht mehr weiß, wie meine eigene Frau heißt.“

Er grinst: „Hab’s mir zum Glück auf den Arm tätowiert.“ Er hält seinen linken Unterarm hoch und zeigt einen geschwungenen Schriftzug.

Ich grinse. „Super Spickzettel.“ Er nickt: „Stimmt. Und wenn ich älter werde, kommt noch mehr dazu: Geburtstage, Hochzeitstage, wenn ich dement werde, noch die Adresse und wie ich heiße.“

Alle lachen. Die Wachstuchjacke sagt: „Hätte gedacht, die Reihenfolge ist genau andersherum, erst die Namen und Geburtstage der Kinder und dann ganz am Ende der Name der endgültigen Frau.“ Ich sehe ihn von der Seite an, und der Chefarzt sagt: „Kannste mal sehen. Das ist eben der technische Unterschied zwischen uns beiden.“

Isobel Markus, Kolumne Berlin Viral der taz, 27.11.2020

berliner szenen

Busdating mit Glühwein

Ich fahre im M29er von der Sonnenallee bis zum Anhalter Bahnhof. Ich sitze oben vorn in der zweiten Reihe, vor mir zwei Jungs, die stumm in ihre Handys schauen. Als sie an der nächsten Haltestelle aussteigen, überlege ich kurz, ob ich mich umsetze. Ich habe schöne Kindheitserinnerungen, oben im Doppeldecker direkt hinter der großen Scheibe zu sitzen, mich zu ducken, sobald die Äste der Bäume die Scheibe peitschen, und mich bei jeder Bremsung an die Stange klammern zu müssen. Wenn der Busfahrer hupte, hatten meine Brüder es natürlich kommen sehen, während ich das Kinn auf die Stange legte und die Welt von oben beobachtete. Wie ich noch so überlege, kommt ein Paar den Gang entlang und lässt sich auf die Plätze vor mir fallen.

„Wie toll“, sagt sie, und der Puschel an ihrer roten Mütze wippt. „Wir haben den besten Platz.“

„Und den besten Glühwein“, sagt er. Er trägt einen Schal bis zu den Augen.

Sie kichert. Er holt eine Thermoskanne aus dem Rucksack und reicht ihr einen Pappbecher. „Ich habe dir einen Becher mitgebracht.“

„Danke“, sagt sie und zuppelt an der Maske. Er schenkt erst ihr ein, dann sich selbst. Sie stoßen an. „Auf ein bisschen anderes Date“, sagt er.

Sie lacht. „War aber echt eine gute Idee mit der Busfahrt. Ich war schon steif gefroren. Hier, fühl mal meine Finger.“

Er fühlt die Finger ihrer Hand. Sie entzieht ihre Hand wieder und umklammert den Becher mit beiden Händen. „Schön warm“, sagt sie und fügt hinzu: „Wie weit fahren wir jetzt eigentlich?“

Er zuckt mit den Schultern: „Bis zu Endhaltestelle vielleicht?“

„Und wo ist die?“

„Wittenbergplatz. Keine Ahnung, wo das ist, bin ja erst seit vier Wochen in der Stadt.“ Er lacht. „Aber wir fahren mit dem Bus einfach wieder zurück, dann verirren wir uns nicht.“

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 18.11.2020

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Die verzerrte Stimme der Lehrerin _ Kolumne Berlin Viral

Die Pandemie bringt vieles ins Wohnzimmer. Manchmal ahnt man gar nicht, wer zuschaut. Erfahrungen aus einem Yoga Kurs online.

Seit Kurzem findet mein Yogakurs online statt. Praktischerweise kann man virtuell mehrere Gruppen zusammenfassen, also treffen wir uns etwa zu zwanzigst auf Zoom und strecken, dehnen und verrenken uns vor den heimischen Bücherregalen, Zimmerpflanzen und Esstischen auf Matten über Teppichen oder Dielen. So weit, so gut.

Neulich aber war gar nichts gut. Nach der Begrüßung und der anschließenden Entspannung springt mein Übertragungsfenster plötzlich auf eine Miniaturversion seiner selbst ohne jede steuerbare Handhabungsmöglichkeit um. Wir Teilnehmer*Innen sind bereits alle stumm geschaltet, ich kann mich also nicht mehr bemerkbar machen, die Yogalehrerin beginnt mit den ersten Asanas, und ich sitze so da, höre kaum etwas, sehe gar nichts, denn der Bildausschnitt ist zu klein und sieht aus wie ein Fotonegativstreifen.

Ich klicke verzweifelt hier und da, versuche das Fenster aufzuziehen. Nichts. Ich rufe meinen 16-Jährigen und zeige bittend auf das Problem. Er schaut kurz drauf und sagt: „Klick doch da mal doppelt. Nee, da.“

Nichts passiert. Er zuckt die Achseln: „Weiß ich auch nicht. Wann gibt’s was zu essen?“

„Ich hab Yoga, mach dir ein Brot.“

„Dann sehen die mich da ja“, er zeigt auf den Laptop, der so ausgerichtet ist, dass man im Hintergrund die Küche sehen kann. „Die machen doch Yoga. Aber ich kann meinen Bildschirm ausstellen, dann sehen sie uns nicht mehr.“ Ich stelle meinen Bildschirm aus.

Die Audio-Übertragung ist inzwischen unterirdisch. Blecherne Geräusche wie aus dem Weltraum überlagern die Stimme der Lehrerin. Irgendwann komme ich nicht mehr mit, stehe bloß fünf Minuten im Hund, strecke mich, hebe mal das Bein, kichere, setze mich hin und denke, ach was soll’s.

Ich schaue mich im Zimmer um und stelle fest, wie unordentlich es ist. Überall fliegen Kissen und Bücher oder Zeitungen herum, Gläser auf dem Tischchen und eine leere Salzstangentüte. Ich räume also die Kissen zurück auf das Sofa, lege die Decken zusammen, bringe die Gläser zum Küchentresen und schenke mir dort einen Rest Weißwein ein. Es passt nicht alles ins Glas, also trinke ich die letzten Tropfen direkt aus der Flasche.

Als ich sie in die Tasche zum Altglas stellen will, fällt sie um und kullert über den Boden. Ich fluche, weil sich etwas Wein auf dem Fußboden verteilt.

Aus der Ferne höre ich Weltraumgeräusche aus dem virtuellen Yogaraum, horche kurz nach den Weltraumgeräuschen aus den Kinderzimmern und mache heimlich eine Tüte Chips auf. Ich stehe also am Küchentresen, sehe in mein Handy, trinke Wein und esse Chips. Jemand schickt mir einen Song, ich höre „A perfect day“ von Lou Reed, singe und summe etwas mit.

Noch einen Schluck Wein auf die Yogastunde, die sich langsam dem Ende zuneigt. Die verzerrte Stimme der Lehrerin klingt jetzt nach der Schlussmeditation. Nach dem abschließenden „Ommmh“ werden alle laut geschaltet und ich sage: „Ich hatte Probleme mit dem Bildschirm.“ Irgendjemand kichert. Wir verabschieden uns.

Kurz darauf bekomme ich zwei Nachrichten. Eine von D. und eine von A. „Ich nehme mal an, dir war nicht klar, dass du die ganze Zeit zu sehen und zu hören warst? Riesig eingeblendet, und du hast so was von gar kein Yoga gemacht“, schreibt D. und schickt ein Weinglas-Emoji. A. schickt drei tränenlachende Emojis und schreibt: „Also heute war es schwer, sich zu konzentrieren. Vor allem, als deine Flasche durch die Küche gerollt ist und du laut ‚So ne Kacke‘ gerufen hast.“ Und ich würde am liebsten für immer im Boden versinken und nie wiederauftauchen.

Isobel Markus, Kolumne Berlin Viral der Taz, 10.11.2020

berliner szenen

Busdating mit Glühwein

Ich fahre im M29er von der Sonnenallee bis zum Anhalter Bahnhof. Ich sitze oben vorn in der zweiten Reihe, vor mir zwei Jungs, die stumm in ihre Handys schauen. Als sie an der nächsten Haltestelle aussteigen, überlege ich kurz, ob ich mich umsetze. Ich habe schöne Kindheitserinnerungen, oben im Doppeldecker direkt hinter der großen Scheibe zu sitzen, mich zu ducken, sobald die Äste der Bäume die Scheibe peitschen, und mich bei jeder Bremsung an die Stange klammern zu müssen. Wenn der Busfahrer hupte, hatten meine Brüder es natürlich kommen sehen, während ich das Kinn auf die Stange legte und die Welt von oben beobachtete. Wie ich noch so überlege, kommt ein Paar den Gang entlang und lässt sich auf die Plätze vor mir fallen.

„Wie toll“, sagt sie, und der Puschel an ihrer roten Mütze wippt. „Wir haben den besten Platz.“

„Und den besten Glühwein“, sagt er. Er trägt einen Schal bis zu den Augen.

Sie kichert. Er holt eine Thermoskanne aus dem Rucksack und reicht ihr einen Pappbecher. „Ich habe dir einen Becher mitgebracht.“

„Danke“, sagt sie und zuppelt an der Maske. Er schenkt erst ihr ein, dann sich selbst. Sie stoßen an. „Auf ein bisschen anderes Date“, sagt er.

Sie lacht. „War aber echt eine gute Idee mit der Busfahrt. Ich war schon steif gefroren. Hier, fühl mal meine Finger.“

Er fühlt die Finger ihrer Hand. Sie entzieht ihre Hand wieder und umklammert den Becher mit beiden Händen. „Schön warm“, sagt sie und fügt hinzu: „Wie weit fahren wir jetzt eigentlich?“

Er zuckt mit den Schultern: „Bis zur Endhaltestelle vielleicht?“

„Und wo ist die?“

„Wittenbergplatz. Keine Ahnung, wo das ist, bin ja erst seit vier Wochen in der Stadt.“ Er lacht. „Aber wir fahren mit dem Bus einfach wieder zurück, dann verirren wir uns nicht.“ 

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 18.11.2020

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Frau mit blauer Jacke war’s

Ich stehe in einem fremden Supermarkt und finde alles unlogisch. Zum Beispiel finde ich den Ketchup weder bei den Saucen noch Reisnudeln beim Reis oder bei den Nudeln. Ich sehe mich nach jemandem um, den ich fragen könnte, und packe derweil Schokolade in meinen Einkaufskorb – wo ich schon mal hier bin. Neben mir steht eine Frau, die sich auch für Schokolade interessiert. Sie liest die Zutatenliste, und ich überlege, ob sie weiß, wo der Ketchup steht, entscheide mich aber dagegen. Sie sieht eher nach Tofuortung aus. Ein Mitarbeiter kommt auf uns zu und ruft: „Entschuldigung, aber Sie wurden gesehen, wie Sie den Kakao getrunken haben und ihn wieder ins Regal stellten.“

Die Frau guckt ihn an und dann mich. Ich glaube, uns ist beiden nicht klar, wen er meint. Ich sage: „Ich hasse Kakao.“

„Reden Sie mit mir?“, fragt sie. „Genau mit Ihnen“, sagt der Mitarbeiter und zeigt mit dem Finger auf die Frau. „Eine Frau mit blauer Jacke und schwarzer Hose, wurde gesagt.“ Ich gucke an mir herunter. Blaue Jacke, schwarze Strumpfhose. Die Frau trägt einen blauen Poncho und eine schwarze Hose. „Sie wurden gesehen“, sagt der Mitarbeiter bestimmt. „Bitte kommen Sie mit.“

„Hallo?“, ruft die Frau, „ich war noch nicht mal in der Nähe des Kakaos. Wo steht der überhaupt?“ Der Mitarbeiter guckt mich an und ich sage: „Ich trinke nie Kakao.“

„Folgen Sie mir bitte. Sie müssen den Kakao bezahlen.“ Die Frau lacht einfach bloß und geht um die Ecke. Der Mann folgt ihr. „Wo soll der denn bitte stehen, der Kakao?“, höre ich noch.

Besser ich gehe, denke ich. Bei meinem Glück muss ich sonst am Ende noch den Kakao bezahlen. An der Kasse vor mir steht eine alte Frau. Sie kaut hinter ihrer Maske. Auf einmal ruft sie ganz laut: „Der da mit der grünen Jacke hat ein Brötchen angebissen.“

Und plötzlich ist mir alles klar. 

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 7.11.2020

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Weihnacht mit Udo Jürgens

Ich betrete mit meiner Tochter das Museum für Fotografie hinter dem Bahnhof Zoo. Wir haben Zeitkarten, sind aber etwas zu früh. Zwei fröhliche Mitarbeiter begrüßen uns am Eingang. „Guten Tag“, sage ich und zeige unsere Karten, „wir sind wohl etwas zu früh, können wir trotzdem schon hinein?“

„Ach, na klaro“, sagt der eine und scannt schon mal unsere Karten. „Hübsche Menschen dürfen zu jeder Zeit kommen“, sagt er noch. Wir lachen. „Ich wollte schon immer mal nachts ins Museum“, sage ich. Die Augen des anderen hinter dem Informationsschalter gucken sehr fröhlich über der Maske. „Das wär aber ein bisschen sehr früh, wir öffnen erst um 11 Uhr morgens.“

„Ach schade“, sage ich.

„Trotzdem viel Spaß Ihnen“, wünscht der erste und zwinkert.

Meine Tochter und ich gehen durch alle Ausstellungen, sehen uns die Werke von Sheila Metzner, Evelyn Hofer, Joel Meyerowitz und Helmut Newton an. Wir staunen über Schamhaartoupets und Helmuts gelbe Socken, die wir toll finden, und lesen seine Terminkalender. Wir stehen lange vor den wie gemalten Bildern von Metzner, dem von Meyerowitz des Jungen mit einem Fisch im Nacken oder der Frau mit den Sommersprossen, die sich wie Konfetti auf ihrem Körper verteilen. Am Ende wollen wir noch mal in den Museumsshop. Ich stöbere draußen an den Postkarten und höre die beiden Mitarbeiter am Eingang lachen. „Udo Jürgens hatte ne Weihnachtsplatte?“, lacht der Mann am Kassenschalter. „Zeigen Sie mal her.“ Ein Museumsbesucher reicht ihm den Stapel Schallplatten und sagt: „Hatte nicht jeder von denen irgendwann eine Weihnachtsplatte? Die hab ich eben am Straßenrand gefunden. Eros Ramazzotti ist auch dabei. Wollen Sie eine?“

„Schönen Dank“, sagt der Mitarbeiter. „Aber für Weihnachten ist es nun wirklich noch zu früh.“ 

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 20.10. 2020

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Der nicht belastbare Hohlkörper

Als ich neulich Nachmittag nach Hause komme, finde ich an meiner Haustür ein großes Paket mit einem Aufkleber. Achtung, nicht belastbarer Hohlkörper, steht darauf. Die Empfängerin ist eine mir unbekannte Frau mit unserer Adresse. Ich schiebe den Karton zur Seite, schließe auf, überlege und rufe als Erstes I. an. „Du, hier steht ein Riesenpaket vor meiner Tür, auf dem steht: Achtung, nicht belastbarer Hohlkörper. Ist das zufällig für dich?“
I. giggelt und sagt: „Na super, jetzt haben sie mir doch echt den Chef in mein Homeoffice geschickt.“ Wir lachen. Dann sagt sie: „Nee, keine Ahnung. Ich hab keine weitere Verwendung für nichtbelastbare Hohlkörper zu Hause. Frag doch mal O.“
Ich rufe bei O. an, die als Erstes fragt: „Ist was passiert? Wieso rufst du denn an?“
„Ich hab hier nur ein Paket und frage mich, ob es für dich ist? Achtung, nicht belastbarer Hohlkörper, steht darauf.“
O. lacht voll laut und ruft: „Mist, jetzt hat die blöde Kuh mir meinen Ex doch wieder zurückgeschickt.“ Wir lachen ziemlich lang und O. findet noch, ich soll die Annahme verweigern, das Paket würde nach jahrelangem Streit und Ärger klingen. Langsam fängt diese Sendung an, mir Spaß zu machen.
Ich rufe noch ein paar Leute aus dem Seitenflügel an und frage diesmal nach der Empfängerin. Keiner hat einen blassen Schimmer.
Als Letztes fällt mir der neue Nachbar ein. Er ist erst kürzlich unter das Dach im Hinterhaus gezogen.
Ich laufe die Treppe bis in den vierten Stock und klopfe an seine Tür. Er öffnet mit nacktem Oberkörper in Jogginghose und ich wiederhole mein Sprüchlein.
„Ist bestimmt der Weihnachtsmann“, sagt er. Ich lache und finde auch diesen Witz ziemlich gut, aber er guckt ernst: „Nee, echt, ist ein wetterfester Weihnachtsmann für den Balkon. Der kann im Dunkeln leuchten.“ 
Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 15.10.2020

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Gestarrt habe ich nicht

Vor mir läuft ein älteres Ehepaar die Treppe im S-Bahnhof herauf und bleibt ebenso wie ich vor dem Blumenstand stehen. Beide sind etwa um die 70, und sie ist schon die ganze Zeit unzufrieden mit ihm, man hörte es bereits auf der Treppe, und seitdem sie die Maske abgezogen hat, sieht man es ihr auch an. Zwei tiefe Falten graben sich seitlich ihrer Mundwinkel nach unten. Sie schweigen und starren wie ich auf die Blumen.

„Du musst nicht denken, dass ich so was nicht sehe“, sagt sie plötzlich. Er brummelt unter seiner Maske. „Weißt du wie verletzend das ist? Was würdest du denken, wenn ich alle naselang einem Mann hinterherpfeife?“ Er hebt den Zeigefinger und sagt: „Gepfiffen habe ich nun nicht, meine Liebe.“ Sie putzt sich die Nase. „Aber nahezu. Angestarrt hast du sie. Fehlte nur noch, dass du stehengeblieben wärst und ihr hinterher gegafft hättest.“

Sie schaut mich an. Ich gucke schnell wieder auf die Blumen und entscheide mich gegen Rosen. „Also“, beginnt sie wieder „was würdest du sagen, wenn ich jedem dahergelaufenen Mann hinterherstarre?“

„Also gestarrt habe ich nicht“, sagt er. „Ich würde dann aber starren“, sagt sie trotzig. „Wenn ich so gucke wie sonst immer, bekommst du es ja sowieso nie mit.“

„Ach“, sagt er und sieht sie entsetzt an, „heißt das, du siehst anderen Männern hinterher?“ Sie bückt sich und hält einen herbstlich gebundenen Strauß in die Höhe. Ich entscheide mich für Gerbera, ziehe einen Strauß aus dem Wassereimer und gehe zum Bezahlen nach innen. An der Kasse höre ich den alten Herrn sagen: „Gitta, ich warte auf deine Antwort.“ Er klingt eifersüchtig. Gitta antwortet nicht, Gitta schaut jetzt auf die Rosen. Die Blumenfrau nickt hinter der Scheibe in Richtung der beiden und sagt mit einem Seufzen: „Und ich dachte, diese Spielchen hören irgendwann mal auf.“

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 10.10. 2020

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Scheiß Musical-Parallelwelt

Ich bin mal wieder im Supermarkt und verfluche alles. Das Einkaufen, das Anstehen, das anschließende Geschleppe bis nach Hause und dann auch noch das Kochen. Die Mahlzeiten sind eine logistische Aufgabe geworden, derer ich müde bin. Die Kinder könnten doch auch mal, denke ich, und mir fällt ein, dass die Kinder schon mal einkaufen, sie kochen auch ab und zu, aber gegen den Pubertätshunger kommt niemand an. Meine Nachbarin O. erzählte, wie sie an einem Freitagabend zwei große Brote kaufte und annahm, das sollte für das gesamte Wochenende reichen. Am Samstagmorgen fand sie nur noch Krümel im Brotkorb. „In diesem Moment wusste ich, dass sich etwas ändern muss“, sagte sie. „Eine Ernährungsumstellung der anderen Art. Ab da gab es Bananen satt, weiße statt grüne Bohnen und Gemüse nur noch mit Käse überbacken. Deine Rettung sind Toastbrote und Tiefkühlpizza“, sagte sie überzeugt. Ich zog ein Gesicht. „Ich hasse Tiefkühlpizza, aber Bananen sind eine gute Idee.“ Ich nehme also noch 10 Bananen zu all dem anderen und stelle mich mit vollem Einkaufswagen an der Kasse an.

Vor mir steht ein unruhiger Mann. Er tänzelt hinter seinem Wagen. Plötzlich hebt er einen Arm und ruft der Kassiererin zu: „So öffnen Sie doch eine zweite Kasse.“ Es klingt theatralisch, geradezu bühnenreif. Die Kassiererin schaut hoch, hebt ebenfalls einen Arm in ausladender Geste: „So lassen Sie mich Bescheid geben.“ Der Mann antwortet im gleichen Singsang wie zuvor: „Ich danke Ihnen – vielmals.“ Die Leute kichern.

Ein schlaksiger Junge mit Bartflaum, der von rechts ankommt, sagt zu seinem Freund: „Und jetzt sind wir auch noch in’ner scheiß Musical-Parallelwelt gefangen.“
Sein Freund guckt ausdruckslos und sagt: „Lass mal’n Döner essen gehen.“ Und da verstehe ich die gesamte Tragik der Pubertät. 
Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 15.09.2020