Bessere Sachen seit Corona
In der S-Bahn mir gegenüber setzt sich eine alte Frau mit einem Koffertrolley und zwei großen Taschen in den Dreiersitz. Sie ist dick angezogen, trägt unter einem offenen Mantel noch eine Winterjacke, ein Stirnband über ihren grauen, langen Haaren und darüber eine Mütze. Ihre Handschuhe sind an den Fingerkuppen abgeschnitten. Sie reibt die Hände aneinander, pustet durch ihre Maske hinein und guckt mich an: „Es ist so kalt geworden.“ Ich nicke.
Sie kramt jetzt in einer Tasche und fördert eine etwas lädierte Brille an einer Lesekette hervor, setzt sie sich auf die Nase und nimmt zwei Kleidungsstücke aus der Tasche. Das eine ist eine lila Strickjacke. Sie faltet die Strickjacke auseinander und hält sie eine Armlänge von sich, begutachtet sie, prüft die Knöpfe, sucht nach dem Waschzettel und studiert ihn eingängig. Die Art, wie sie auf den Waschzettel sieht, erinnert mich an meine Großmutter.
Jetzt legt sie die Strickjacke wieder ordentlich zusammen und packt diese in die Tasche zurück. Der Pullover auf ihrem Schoß ist hell und aus Mohair. Viele feine Härchen stehen von der Wolle ab. Sie lacht mich an, streckt mir den Pulli entgegen: „Fühlen Sie mal.“
Ich fühle mit den Fingerspitzen und sage: „Ganz weich.“
Sie nickt. „Der hält bestimmt warm.“ Sie fährt mit den Fingern darüber: „Die Sachen wollte niemand mehr haben, und ich konnte mir das alles aussuchen.“ Sie zeigt auf ihre Taschen, steht auf und zeigt mir die Jacke, die sie unter dem zu großen Mantel trägt. „Gucken Sie, sogar diese Jacke. Ist doch doll, was?“ Ich nicke. „Sehr schöne Sachen.“
„Ja“, sagt die Frau. „Seit Corona bekommt man viel bessere Sachen. Die Leute sortieren alles aus. Und ich habe dann das Glück.“ Sie lächelt wieder und hinter ihrer Brille sind die Augen groß.
Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 8.12.2020