berliner szenen

Gestarrt habe ich nicht

Vor mir läuft ein älteres Ehepaar die Treppe im S-Bahnhof herauf und bleibt ebenso wie ich vor dem Blumenstand stehen. Beide sind etwa um die 70, und sie ist schon die ganze Zeit unzufrieden mit ihm, man hörte es bereits auf der Treppe, und seitdem sie die Maske abgezogen hat, sieht man es ihr auch an. Zwei tiefe Falten graben sich seitlich ihrer Mundwinkel nach unten. Sie schweigen und starren wie ich auf die Blumen.

„Du musst nicht denken, dass ich so was nicht sehe“, sagt sie plötzlich. Er brummelt unter seiner Maske. „Weißt du wie verletzend das ist? Was würdest du denken, wenn ich alle naselang einem Mann hinterherpfeife?“ Er hebt den Zeigefinger und sagt: „Gepfiffen habe ich nun nicht, meine Liebe.“ Sie putzt sich die Nase. „Aber nahezu. Angestarrt hast du sie. Fehlte nur noch, dass du stehengeblieben wärst und ihr hinterher gegafft hättest.“

Sie schaut mich an. Ich gucke schnell wieder auf die Blumen und entscheide mich gegen Rosen. „Also“, beginnt sie wieder „was würdest du sagen, wenn ich jedem dahergelaufenen Mann hinterherstarre?“

„Also gestarrt habe ich nicht“, sagt er. „Ich würde dann aber starren“, sagt sie trotzig. „Wenn ich so gucke wie sonst immer, bekommst du es ja sowieso nie mit.“

„Ach“, sagt er und sieht sie entsetzt an, „heißt das, du siehst anderen Männern hinterher?“ Sie bückt sich und hält einen herbstlich gebundenen Strauß in die Höhe. Ich entscheide mich für Gerbera, ziehe einen Strauß aus dem Wassereimer und gehe zum Bezahlen nach innen. An der Kasse höre ich den alten Herrn sagen: „Gitta, ich warte auf deine Antwort.“ Er klingt eifersüchtig. Gitta antwortet nicht, Gitta schaut jetzt auf die Rosen. Die Blumenfrau nickt hinter der Scheibe in Richtung der beiden und sagt mit einem Seufzen: „Und ich dachte, diese Spielchen hören irgendwann mal auf.“

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 10.10. 2020