berliner szenen

Regenjacke oder Flipflops


Ich stehe in Kreuzberg in der Oranienstraße an der Bushaltestelle und warte auf den M29er, der mal wieder nicht kommt. Mit mir stehen viele andere, und ich befürchte, dass der Bus so voll sein wird, dass ich sowieso auf den nächsten warten muss. Es sieht nach Regen aus. Schon den ganzen Tag denkt man, jetzt regnet es gleich, aber dann ist es einfach nur noch ein bisschen grauer. Ein Mann guckt zum Himmel, und als hätte er meine Gedanken erraten, ruft er mir zu: „Das war’s jetzt mit dem Sommer. Ick riech schon den Herbst.

Er trägt Sneakers und eine Übergangsjacke, so wie die meisten um uns herum. Ich zeige auf meine Flipflops und sage: „Bei mir ist noch Sommer.“ Der Mann lacht und hält sich mit einem kurzen Arm den Bauch. „Bisde nasse Füße krichst.“

Ich lächle kurz, dann schaue ich auf mein Handy, bis er jemand anderen anspricht. Diesmal geht es um den Bus. Jeden Tag müsse er sich ärgern. Er hätte schon ’ne Mail geschrieben, erzählt er.

Neben mir stehen zwei Frauen. Die eine hat sehr gleichmäßige Locken. Wie Korkenzieher. Kaum denke ich Korkenzieherlocken, habe ich sofort Funny van Dannens Lied im Kopf. Lalalalalange Korkenzieherlocken. Die Korkenzieherlockenfrau fächelt sich mit einer Broschüre Luft zu und sagt: „Puh, ist mir heiß. Das gibt’s doch nicht.“ Die andere schaut kurz von ihrem Handy auf, sagt aber nichts.

„Sag jetzt nichts“, meint die mit den Locken. Die andere murmelt: „Was sagst du?“

„Na, wenn man in unserem Alter nur mal erwähnt, dass einem heiß ist, kommt sofort: Das sind die Wechseljahre.“ Die andere guckt jetzt hoch: „Ich würd eher sagen, zieh die Regenjacke aus.“

„Nee, ich hab so’n doofes T-Shirt an, und meine Arme sind doch so fett, sagt Hubie.“

Die andere guckt plötzlich ziemlich genervt: „Dann würd ich noch sagen: Wechsel den Mann!“ 
Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 05.09. 2020

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Es piept und piept und piept

Ich stehe an der Kasse in der Drogerie, als es am Eingang laut piept. Ein Vater mit einem vor dem Bauch gebundenen Tragetuch, aus dem lediglich ein paar knubbelige Säuglingsbeine heraushängen, bleibt im Eingang stehen und guckt erschreckt.
„War ich das?“, fragt er den Kassierer. Der zuckt die Achseln. „Kann schon sein.“
„Aber ich komme ja gerade erst“, sagt der Vater.
Der Kassierer lacht: „Sie meinen, wenn Sie rausgehen, piept es in jedem Fall?“
Der Vater leicht gestresst: „Aber nein.“
„Sollte nur ein Witz sein. Ich rufe jemanden“, sagt der Kassierer. „Ist gleich da.“
Er zieht meine Einkäufe weiter über den Scanner. Der Vater geht noch einmal durch den Eingang und es piept wieder. „Okay, also ich bin es wirklich“, ruft er dem Kassierer zu. Der nickt und sagt: „Waren Sie grad irgendwo einkaufen? Vielleicht ist es eine Fremdsicherung.“
Inzwischen ist eine Mitarbeiterin eingetroffen und begutachtet den Vater von oben bis unten. „Vielleicht ist es Ihr Handy, geben Sie mal her.“
Der Mann gibt ihr sein Handy und geht wieder durch die Tür, es piept.
„Dann mal Ihr Portemonnaie, und haben Sie noch Karten oder einen elektronischen Schlüssel?“
Der Mann räumt leicht genervt seine Hosentaschen und gibt ihr alles in die Hand, geht durch die Tür, und es piept wieder.Die Mitarbeiterin guckt auf sein Tragetuch und sagt: „Dann muss es wohl das Baby sein.“ –
„Wie“, fragt der Mann.
„Na, vielleicht müssen Sie mal das Tuch abmachen.“
„Jetzt piept’s wohl bei Ihnen“, sagt der Vater, „das Kind schläft endlich, und das Tuch bekomme ich allein gar nicht mehr angelegt.“
Sie reicht ihm seine Sachen zurück und sagt: „Ist okay. Lassen wir’s einfach.“ Der Kassierer an der Kasse grinst mich an und sagt: „Is klar. Wenn’s bei allen piept, hört man es irgendwann gar nicht mehr.“

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 28.08.2020

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Whiskey in kleinen Tütchen

Im Supermarkt steht eine Frau in der Reihe mit Mehl und Eiern und schaut sich suchend um. Sie sieht aus wie ein paradiesischer Vogel. Ihr Rock ist rot, lang und plusterig, darüber trägt sie eine orangefarbene Bluse und einen Sommerhut mit einer lilafarbenen Blume. Bei jeder ihrer Bewegungen klirren Armbänder und ihre Maske ist feuerrot mit einer kleinen Ausstülpung vorn, die wie ein Schnabel aussieht. Ihr blumiges Parfum setzt sich schwer zwischen die Eierkartons. Ich nehme einen Karton, schaue hinein und stupse jedes Ei an, um zu sehen, ob es noch ganz ist. Die Vogelfrau schaut mir dabei zu. Als ich den Deckel befriedigt wieder schließe, treffe ich ihren Blick und sie sagt: „Das ist ja mal ein Trick.“

Ich überlege, ob sie das ernst meint und sage vorsichtshalber: „Na ja.“

Nicht weit vor dem Kühlregal höre ich wieder ihre Stimme: „Entschuldigung, können Sie mir helfen?“

„Ich versuch’s“, sagt eine Verkäuferin mit einer Liste in der Hand.

„Ich suche Börben-Vanille“, sagt die Vogelfrau und zeigt hilfesuchend auf das Regal. Die Verkäuferin guckt sie an und kratzt sich am Ohr.

„Also der Whiskey steht drei Reihen weiter.“

Die Vogelfrau schaut irritiert und sagt: „Nein, wissen Sie, den Börben-Vanillezucker in den kleinen Tütchen.“

„Ach so“, sagt die Verkäuferin, „Bourbon Vanillezucker ist genau auf der anderen Seite ganz oben.“

„Bourbon?“, fragt die Vogelfrau. Die Verkäuferin nickt: „Das andere ist der Whiskey.“

„Ach“, macht die Vogelfrau. „Ich wusste ja gar nicht, dass es auch Whiskeyzucker gibt. Finde ich den auch da?“

„Eh nee, den gibt es nicht. Ich habe Sie nur nicht gleich verstanden.“ Die Vogelfrau guckt verwirrt.

Als die Verkäuferin an mir vorbeikommt, sagt sie mehr zu sich selbst: „Das sind die Leute, die auch immer nach dem Prosettscho suchen.“

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 13.08.2020

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Andere Pläne in diesem Jahr

Mitten im Satz, inmitten eines Gedankens klingelt es an der Tür. Ich reiße mich los, gehe in den Flur und drücke auf. Von unten ruft es: „Postwurf!“

Wieder am Schreibtisch ist der Satz weg, der Gedanke verschwommen. Als ich beides wiederfinde, klingelt das Telefon. Ich beschließe, es zu ignorieren. Andere Leute sind auch grad nicht zu Hause. Andere Leute irgendwo auf der Welt. Mir fällt ein, dass ich jetzt eigentlich in Italien wäre. So viel zu den anderen Plänen in diesem Jahr. Das Telefon klingelt weiter. Ich frage mich, warum die Mailbox nicht anspringt, und gehe ran. Ein Gewinnspiel. Ich unterbreche die Frau und bitte sie, mich aus der Liste zu streichen. Sie legt ohne weiteres Wort auf. Ich sehe auf den blinkenden Curser, finde den Gedanken, den Satz, als es wieder an der Tür klingelt.

„Manno“, rufe ich auf dem Weg zur Tür genervt.

Vor der Tür steht eine junge DHL-Botin hinter einem sperrigen Paket. Sie macht große Augen. Ich nehme an, sie hat mich gehört. Ich lächle sanft.

„Entschuldigung, würden Sie etwas für Ihre Nachbarn annehmen?“, fragt sie. „Es ist sehr schwer.“

„Okay“, sage ich. Sie hebt das riesige Paket an und stellt es mir auf die Schwelle.

„Vielen Dank, ich lege einen Zettel in den Briefkasten“, sagt sie und ist schon die Treppe herunter. Ich will das Paket anheben und bekomme es nicht hoch. Das gibt’s doch nicht, denke ich und versuche es noch mal. Das Paket rührt sich nicht. Ich quetsche mich zwischen Paket und Tür und schiebe mit Bein und Hüfte, bis es in die Wohnung kippt, dann setze ich mich auf die Schwelle, halte mich am Türrahmen fest und drücke mit beiden Beinen dagegen.

Da kommt mein Nachbar H. die Treppe hoch. „Alles gut bei dir?“ Er guckt interessiert.

„Alles gut“, sage ich knapp. „Ich arbeite grad.“

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 05.08.2020

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Was lädtste auch dein Handy nicht

Auf dem S-Bahnhof Friedrichstraße stehen zwei Männer vor dem Stadtplan. Sie tragen Kappies, kurze gemusterte Jeans und orange Rucksäcke im Partnerlook, halten jeweils einen Finger als Markierungspunkt auf der Karte und eine Bierflasche im Arm. Sie schwanken hin und her und tragen keine Masken. Touristen, denke ich und überlege, woher sie wohl kommen.

„Alter, das kapier ich hier nicht“, sagt der rechts: „Ich hab echt keinen Plan.“

Der links lässt resigniert den Finger abrutschen. „Versteh ich auch nicht“, sagt er. „Kann echt keine Karte mehr lesen ohne Maps und die Punkte.“

Ich tippe inzwischen auf irgendwo vom Dorf.

Der rechts hat einen ziemlich roten Kopf und sagt: „Was lädtste denn auch dein Handy nicht richtig auf. So was von Hirnriss.“ Er nimmt das Kappie ab und streicht sich über den Bürstenschnitt.

„Ey, das sagt ja wohl der Richtige.“

Der rechts stöhnt. „Was werden die Weiber sauer sein“, er setzt sich auf den Boden vor die Karte, streckt die Beine aus und trinkt seine Flasche leer. Der andere hockt sich daneben und sagt: „Wenn wir sowieso verschollen sind, können wir auch noch ein bisschen Spaß haben, nich.“

Der rechts guckt ihn an und sagt: „Alter, kapierst du überhaupt was?“ Er ist richtig laut. Die Leute gucken jetzt.

„Na was?“ fragt der links und hebt die Hände mit glasigem Blick. „Ist doch jetzt auch schon egal.“

„Boris, ich sag dir eins: Wenn wir das Kackhotel nicht mehr finden, kannste dich gleich an den Eiern aufhängen lassen und ’nen Antrag stellen, dass sie ’ne Sackgasse nach dir benennen.“

Die Umstehenden sehen sich an und lachen verstohlen hinter ihren Masken.

Der links bekommt das mit und sagt: „Siehste, jetzt lacht schon ganz Berlin über dich, kannst bald Eintritt nehmen.“ 

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 30.07.2020

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Das wird man schwer wieder los

Ich sitze im S-Bahnhof in der Sonne. Es ist Montagmorgen, und ich ärgere mich, weil ich gerade ganz knapp die S-Bahn verpasst habe. Die Anzeige zeigt noch 9 Minuten bis zur nächsten Bahn, und ich weiß, ich werde damit zu spät zu meinem Termin kommen. Auf dem Sitz neben mir liegt ein Buch mit dem Titel „Murphys Gesetz“. Ein Stempel auf dem Schnitt zeigt an, dass es sich um ein preisreduziertes Mängelexemplar handelt. Ich lache wegen der lustigen Symbolik kurz in mich hinein, mache ein Foto und schaue auf mein Handy, während sich eine Frau auf die andere Seite des Buches setzt.

Als die S-Bahn einfährt, stehe ich auf und gehe etwas weiter nach vorn an die Bahnsteigkante. Die Frau kommt mir hinterher, tippt mir auf die Schulter und fragt: „Entschuldigung, ist das Ihr Buch da?“ Sie zeigt auf Murphy’s Law. Ich schüttle den Kopf: „Nein, das ist nicht meins. Es lag da schon.“
„Ach“, sagt sie erfreut, „na, dann nehme ich es mir mit.“

In der S-Bahn stehe ich an der Tür und beobachte, wie sie auf ihrem Platz durch die Seiten blättert, hier und da ein paar Abschnitte anliest und das Buch dann unauffällig auf den Platz neben sich legt. Ihre Augen über der bunt bedruckten Maske schauen betont harmlos aus dem Fenster.

Nach zwei Stationen steht sie auf, und ein Junge ruft ihr nach wenigen Schritten hinterher: „Hallo, Sie! Sie haben Ihr Buch vergessen.“ Er hält es ihr entgegen. Die Frau runzelt die Augenbrauen, nimmt das Buch und bedankt sich. Neben mir an der Tür sieht sie mich an, hält das Buch hoch und sagt:
„Das wird man wohl schwer wieder los.“
Ich lache und sage: „Liegt vielleicht am Inhalt.“
Sie zuckt mit den Achseln.
„Na ja“, sagt sie, „ich muss noch zweimal umsteigen. Irgendwann wird es klappen.“
Als sie aussteigt, wünsche ich ihr noch viel Glück dabei.

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 21.07.2020

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Telefonieren bei offener Tür

In der Schlange beim Bäcker stehen zwei Frauen mit Mundschutz vor mir. Die eine hat rote Haare und Ohrringe, die bei jeder Bewegung klirren. Die andere hat ihre Haare mit einem Ess-Stäbchen hochgesteckt. Es ist eins dieser Stäbchen, die man durchbrechen muss, bevor man mit ihnen essen kann. Ich überlege, ob sie es benutzt hat, bevor sie es sich in die Haare steckte.

Die Stäbchenfrau erzählt von einem Gespräch im Büro. Sie unterhält die ganze Bäckerei. Ihre Stimme ist schrill. „Und da sagt die doch glatt zu mir: Wenn du noch mal beim Telefonieren deine Tür offen lässt, komm ich zum Telefonieren zu dir in den Raum.“

Die andere guckt in die Auslage: „Ich glaub, ich nehm ein Stück vom Käsekuchen.“

„Ja“, sagt die Stäbchenfrau. „Dann hab ich gesagt: Entschuldige mal, hast du eine Ahnung, wie heiß es in meinem Raum ist? Da knallt die Sonne den ganzen Tag. Ich muss die Tür offen lassen.“

Die Stäbchenfrau guckt die Rothaarige an. Die sagt ruhig: „Willst du auch eins?“

„Meinetwegen“, sagt die Stäbchenfrau unwirsch. „Die hat sie doch nicht alle. Was bildet die sich ein? Ich mein, ich telefonier ja nicht privat.“

Die Rothaarige tritt an den Tresen und bestellt den Käsekuchen. „Ich lad dich ein“, sagt sie zu der Stäbchenfrau.

Die ruft: „Hast du mich überhaupt gehört?“

Die Rothaarige zahlt und sieht der Verkäuferin zu, die den Kuchen konzentriert in Papier einschlägt.

„Hallo?“, ruft die Stäbchenfrau ziemlich aggressiv. Die Verkäuferin guckt auf.

Die Rothaarige sagt leise: „Vielleicht können wir Chefchen ja fragen, ob du einen Ventilator bekommst.“

„Alles klar“, gellt die andere beleidigt. „Also findest du mich auch zu laut beim Telefonieren?“

Die Verkäuferin guckt von der einen zur anderen, reicht das Kuchenpaket hinüber und sagt: „Ich glaub, so’n Ventilator ist ’ne echt gute Idee.“

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 17.07.2020

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Das weiß er manchmal selbst nicht

Ich laufe mit meiner Yogamatte durch betulich stille Straßen in Lichterfelde. Meine Freundin Derya und ich haben anderthalb Stunden digitales Yoga in ihrer Küche hinter uns, danach ein Glas Wein auf der Matte getrunken, und jetzt fühle ich mich, als würde ich gleich zusammenbrechen oder anfangen zu schweben. So ganz entschieden habe ich mich noch nicht. Ich bestaune die Pflanzen in den Villengärten. Dort stehen die gleichen Büsche und Kräuter wie auf meinem Balkon, nur sind diese hier viermal so groß.

Vor dem Zaun einer Backsteinvilla entdecke ich die alte Frau mit den weißen Locken, die ich oft treffe, wenn ich Derya besuchen gehe. Inzwischen grüßen wir uns. Einmal fragte sie nach einem Fotoladen und zeigte mir einen alten Apparat: „Sehen Sie, ich brauche neue Batterien.“ Ich konnte ihr leider nicht helfen, aber das schien sie wenig zu kümmern.

Ein anderes Mal fragte sie, ob ich wisse, wo Willi bleibe. „Leider nein“, entgegnete ich und fragte, wer denn Willi sei. Sie machte eine abfällige Geste: „Das weiß er manchmal selbst nicht.“

„Oh“, sagte ich. Mehr fiel mir nicht ein, aber ich habe noch lange überlegt, warum Willi nicht weiß, wer er ist.

Jetzt schneidet sie mit einer Gartenschere Zweige in einen Eimer. Als ich näher komme, grüßt sie fröhlich und erklärt: „Ich schneide Kochsträuße.“ Ich bleibe stehen und wiederhole matt: „Kochsträuße?“ Sie bückt sich, legt die Gartenschere auf die Erde und bindet ein paar Zweige Salbei, Rosmarin und Lavendel mit einem Gummiband zusammen: „Der ist für Sie.“

Ich freue und bedanke mich, aber als ich weitergehe, höre ich nach ein paar Metern eine wütende weibliche Stimme: „Was fällt Ihnen ein, meine Kräuter abzuschneiden?“ Ich drehe mich um. Die alte Frau läuft mit dem Eimer die Straße herunter, als wäre nichts geschehen.

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 11.07.2020

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Kommt wegen dem Giftblatt

Ich stehe mit meinem Sohn an der Kasse in einem Supermarkt mit viel Auswahl. Wir haben Unmengen eingekauft, weil wir unser halbjährliches Zeugnisessen diesmal zu Hause machen wollen. Die Kinder haben sich Wraps gewünscht und da benötigt man viel Füllstoff. Außerdem ist Sommer im Obstregal. Wir haben also alles in den Wagen gelegt, auf das wir Lust hatten, und nun kullern Stachelbeeren und Aprikosen, Pfirsiche und Johannisbeeren das Band herunter.

Während die Kassiererin die Melone auf den Scanner hebt, sagt sie mit dem Blick auf die Kasse: „Na, dit wird wohl ’n Obstsalat, wa?“ Ich antworte: „Offenbar ein echt großer.“ Sie sagt: „Wie für die Affen im Zoo.“ Mein Sohn und ich lachen zu laut.

Eine Kasse weiter tritt ein Junge mit seinem über Mund und Nase gezogenen T-Shirt heran und sagt: „Hallo, ich bin wegen dem Zeugnis da.“ Die andere Kassiererin ruft: „Karin, wegen dem Giftblatt.“ Sie grinst.

Unsere Kassiererin beugt sich herunter und holt ein etwas ramponiertes, in der Mitte gefaltetes Zeugnis unter der Kasse hervor, dreht sich um und reicht es dem Jungen mit den Worten: „Wolltst es wohl loswerden, wa?“

Der Junge zuckt mit den Achseln. „Wär schön gewesen.“

„Keine Sorge, hab’s nicht angeguckt. Wird schon werden“, sagt sie und wendet sich wieder der Melone zu. Der Junge trollt sich mit eingezogenen Schultern. „Nanu, wie war das denn?“, frage ich neugierig, und die Kassiererin sagt: „Hat er hier liegen lassen, und ein Kunde hat es zu mir gebracht. Da ham wa die Schule angerufen.“ Sie kullert die Melone zu mir: „Hab’s natürlich doch angeguckt.“ Sie zieht die Mundwinkel in die Breite. „Das Bürschchen hat heute bestimmt noch Palaver zu Hause. Aber da kannste nix machen. So’n Zeugnis is wie’n Bumerang. Dit kommt immer wieder zurück.“

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 04.07.2020

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Lasst mich doch alle zufrieden

Ich setze mich im Bus vor zwei Jungs, so etwa 16 Jahre alt. Der eine guckt mich komisch an und sagt etwas wie: „Boah, sieht die Kacke aus.“ Ich überlege ziemlich irritiert, ob er etwa mich meint, und ärgere mich über mich selbst, weil es mich ärgert. He, der ist ein Teenager und ich könnte seine Mutter sein, sage ich mir zur Beruhigung. Während wir fahren, bemerkt er hier und da immer mal wieder etwas Gemeines über andere Mitfahrende oder Leute am Straßenrand. Der anderen sagt nichts. Als ein Mädchen in Leggings den Bus betritt und sich in unsere Nähe an die Tür stellt, sagt der Typ hinter mir nicht unhörbar für das Mädchen: „So’n Arsch, aber dann Leggings.“

Ich drehe mich um und gucke ihn an: „Geht’s noch?“, frage ich. Er cool hinter seiner schwarzen Maske: „Was wollen Sie denn?“
„Dass du deine Bemerkungen für dich behältst“, sage ich etwas zu laut und drehe mich wieder nach vorn.
„Ist doch meine Sache“, sagt er und lacht.
Ich drehe mich wieder um und mustere ihn wütend. Er trägt ein Poloshirt mit dem Logo einer teuren Marke an der Brust.
„Und wenn ich sagen würde: ‚Was bist’n du für ein Schnösel‘, und andere Leute teilen dir auch alle naselang ungefragt ihre Meinung über dich mit?“
„Wär mir scheißegal“, sagt der Typ.
„Das glaub ich aber nicht.“ Ich drehe mich wieder nach vorn und komme mir vor wie eine alte Tante. Deshalb gucke ich auch keinen im Bus an.

Als die beiden Jungs aufstehen und zur Tür gehen, sagt das Mädchen in den Leggings zu dem Typen: „Lieber Arsch in’ner Leggings haben, als so’n Arsch zu sein wie du.“
„Ey, lasst mich doch alle zufrieden“, sagt er und geht raus. Irgendwie freue ich mich darüber.
Als das Mädchen an der nächsten Station aussteigt, lächelt sie mich hinter der Maske vielleicht kurz an. Ganz klar ist das nicht. 

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 30.06.2020