berliner szenen

Wenn die zweite Kasse aufmacht

Ich stehe an der vollen Kasse im Bioladen und bin genervt. Ich habe vier Sachen. Cornflakes, ein Päckchen Vanillezucker, sechs Eier und einen Kokos-Zartbitter-Riegel für den Nachhauseweg. Die Schlange ist lang und reicht bis vor das Chipsregal. Ich ignoriere die vielen Tüten angestrengt, reiße dafür schon mal meinen Riegel auf, beiße ab und sehe nach vorn. Direkt vor mir steht ein Jungunternehmer-Typ mit einem knallvollen Wagen. Vor ihm eine alte Dame mit rotem Mützchen, die ähnlich wenig Ware im Korb hat wie ich. Nur zwei Rüben und ein paar Kartoffeln. Der Typ vor mir tappt ungeduldig mit dem Fuß und schaut dabei auf ein gigantisches Handy. Er ist mir irgendwie unsympathisch.

„Kommen Sie bitte auch an Kasse 2“, ruft ein Mitarbeiter und das bringt die Schlange in Bewegung. Auch die alte Dame möchte zur zweiten Kasse, wird aber von mehreren Leuten überholt und von dem unsympathischen Typen fast noch mit einer aus dem Wagen ragenden Palette Apfelsaft gerammt.

Sie bleibt stehen. „Bitte“, sagt sie resigniert zu mir und will mir den Vortritt lassen. „Alles gut“, antworte ich und halte den Schokoriegel hoch, „ich habe grad keine Eile.“ Sie wackelt mit dem Kopf, stellt sich vor mir an und murmelt: „Ihr jungen Leute habt es doch immer eilig.“

„Manchmal schon“, gebe ich zu. Dann wendet sich die Frau mir zu und hält ihre Hand an die Seite ihres Mundes. Ich beuge mich etwas zu ihr herunter. „Mein verstorbener Mann hat immer gesagt, der wahre Charakter eines Menschen zeigt sich, wenn eine zweite Kasse aufgemacht wird.“ Sie zeigt auf den unsympathischen Typen. „Mehr muss man bei dem nicht wissen.“

Ich grinse. Sie auch. Dann dreht sie sich nach vorn. Mehr gibt es nicht zu sagen, wenn die Welt grad voll in Ordnung ist. Im Biomarkt an der zweiten Kasse.

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 02.03.2020

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Lacher und noch mehr Tumult

Ein Nachmittag bei Karstadt. Ich stehe mit meinem Sohn B. vor den Umkleidekabinen der Herrenabteilung. B. hat einen sündhaft teuren Pullover im Arm, auf den er seit Monaten spart. Er hat dafür Fenster bei meiner Mutter geputzt, geholfen, ein Zimmer bei seinem Vater zu renovieren, und für mich gegen eine Gebühr Saft und Wasser eingekauft. Das alles für einen Pulli mit einer großen Echse. Ich verstehe es nicht, aber das muss ich ja auch nicht. Heute ist also der große Tag der Erfüllung. Da die Farbauswahl noch ein Problem war, bot ich mich an mitzukommen. „Joa“, war die missmutige Antwort und ich habe mich gefreut. Wenn B. und ich unterwegs sind, passieren oft lustige Sachen.

„Geh doch schon“, sagt B. da. „Ich weiß jetzt, welche Farbe.“ Ich grinse schadenfroh. „Nö, ich guck nun schon noch, wie er aussieht.“

Er wirkt gefasst. Es ist natürlich inzwischen peinlich, mit mir gesehen zu werden. Ich habe mich daran gewöhnt, amüsiere mich darüber und ärgere ihn gern etwas mit meiner Anwesenheit. Manchmal drohe ich an, ihn laut bei seinem Kosenamen zu rufen. Wirkt immer.

Die Umkleidekabinen sind voll, also warten wir vor zwei Kabinen inmitten des Verkaufsraums. Plötzlich wird der Vorhang aufgerissen. Ein kleiner nackter Mann steht vor uns. Er hat nur noch Socken und Schuhe an und seine Kleidung in einem Bündel unter dem Arm. Sein Blick ist vorfreudig. Ich sehe interessiert zu, wie der Mann an uns vorbeirennt und nackt durch die Abteilung flitzt. Man hört vereinzelte Schreie und Lacher seinen Weg begleiten, bald noch mehr Tumult.

B. und ich gucken uns an und B. zieht fragend eine Augenbraue hoch: „Ist er hier fertig oder kommt der noch mal wieder?“ „Ich glaub, du kannst jetzt rein“, sag ich. Dann geht B. in die Kabine und probiert seinen Pullover an. 

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 25.01.2020

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Das Gesicht, der Blick: alles grau

Die S-Bahn hält am Anhalter Bahnhof, als ich die Frau sehe und weiß, dass sie sich mir gegenübersetzen wird. Es ist ein Gefühl.

Sie setzt sich, hält ihre Handtasche mit beiden Händen, steht auf und streicht ihren Mantel glatt, setzt sich, erhebt sich wieder und glättet den Mantel erneut. Ich denke an einen Hund, der sich vor dem Hinlegen dreht, um imaginäres Gras niederzutreten. Ihr Haar ist grau. Ihr Gesicht, ihr Mantel, die Tasche, ihre Augen, ihr Blick. Alles ist grau. Ich denke an Momos graue Herren.

Sie dreht sich zu ihrer rechten Seite und sieht den Mann neben sich an. Er schaut auf sein Handy. Ab und zu sagt er etwas zu der Frau neben mir. Ich mag den Klang der Sprache. Es ist, als würde Wasser eines Flusses über Steine gurgeln. Vielleicht ist es Hindi, überlege ich. Die graue Frau dreht den Kopf immer wieder zu ihm, dann starr zu mir. Der Mann sieht sie irritiert von der Seite an, sobald sie zu mir sieht.

Im Tunnel quietscht es schrill. Sie spricht mit mir. Ich kann sie nicht verstehen. „Bitte?“, frage ich und sie sagt: „Schrecklich, oder?“

Ich nicke und meine das Quietschen. Sie macht eine ruckartige Kopfbewegung zu dem Mann und der Frau und eine abwertende Geste. Das gefällt mir nicht. Mein Herz klopft. Ich werde rot vor Wut und Scham, runzle die Stirn und schlucke. „Was meinen Sie?“ Die Graue antwortet nicht. Ich sehe sie an und frage wieder: „Was meinen Sie?“ Sie sieht weg. Dann steht sie auf und steigt aus.

Ich begegne dem Blick des Mannes. Er lacht, wischt sich mit der Hand vor dem Gesicht hin und her, sagt etwas, das ich nicht verstehe. „Der Winter macht alle gaga“, übersetzt die Frau und schaut beschwörend. „Mein Vater versteht kein Deutsch.“ Ich verstehe. Ich nicke ihm zu, lächle, wische auch mit der Hand vor meinem Gesicht. Seine Tochter lächelt mit traurigen Augen. 
Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 18.01.2020

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Lieber Sätze statt Vorsätze

Es ist Silvester, ich bin auf einer Feier und kenne niemanden, außer V., die Gastgeberin. Ich brauche frische Luft und hole meinen Mantel.

Auf dem Balkon steht einer, den ich auch nicht kenne. Wir grüßen uns. Es riecht nach Schwefel. Gelbe Schwaden ziehen vorbei. Der Typ bläst den Rauch seiner Zigarette über den Kreuzberger Hof in den bunten Nachthimmel. Lichter platzen, es knallt und pfeift. Das gefällt mir.

Wir sehen uns an und wissen nicht, was wir sagen sollen, also lehnen wir uns auf die Brüstung und schauen nach unten in den Hof. Von hier oben sieht die Sandkiste aus wie ein Geburtstagskuchen, die bunten Plastikspielzeuge darin wie Smarties. Aus einem Fenster werfen zwei Jungs Böller vor die Mülltonnen. „Hast du Vorsätze für das neue Jahr?“, fragt er da plötzlich.„Eher Sätze als Vorsätze“, sage ich, bin aber zu faul, es zu erklären. Er drückt die Zigarette in einen Blumentopf: „Ist eigentlich auch besser. Vorsätze bringen sowieso nichts.“ Ich freue mich. „Und du?“, frage ich dann. „Ich nehme mir jetzt Sätze vor statt Vorsätze.“

Ich muss lächeln, er auch. Wir sehen uns an und verstehen uns. Es ist ein Moment der Ruhe. Als würden wir uns aus der Sandkiste kennen, hätten die größte Burg der Welt gebaut und viel später Böller an die Mülltonnen geworfen. Eine rote Supernova explodiert über uns.Er schaut auf sein Handy. „Noch 10 Minuten.“ Ich nicke: „Na dann, bis gleich.“ Er lächelt. Dann geht er rein. Ich atme noch ein paar Mal tief über den Hof.

Wieder drinnen, drückt mir V. ein Sektglas in die Hand: „Wo warst du denn bloß?“ „Irgendwie weit weg“, sage ich. Mit dem Glas in der Hand gehe ich durch die Räume. Es ist voll. Ich dränge mich bis in die Küche. 5, 4, 3, 2, 1, rufen sie. Aber ich finde ihn nicht mehr. Den, der sich jetzt Sätze vornimmt. 

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 31.12.2019

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Die Sache mit dem Pusten

A. lädt mich zu einem vorweihnachtlichen Abend ein und schlägt einen Kirchenbesuch vor. Ich muss lachen. A. ist Atheist, pflegt aber katholische Traditionen. In seinem Atelier hängt eine Madonna und er liebt katholische Kirchen. Auf meinem Weg zu der Kreuzberger Kirche spürt man, dass das Weihnachtsfest bevorsteht. Die Gesichter in der U-Bahn sind hektisch oder leer.

A.s Gesicht dagegen ist voll erwartender Aufregung, vergleichbar mit der von Kindern im Kino, kurz bevor es im Saal dunkel wird. Als wir uns drinnen in eine Kirchenbank setzen, überträgt sich die Stille sofort auf uns. Es riecht nach Weihrauch und Kerzen.

Ein Geldstück fällt in die Kasse, eine Frau zündet eine Kerze an. Das Kind auf ihrem Arm pustet die Flamme wieder aus. A. und ich lächeln. Die Frau zündet die Kerze erneut an, das Kind beugt sich nach vorn, aber die Frau tritt einen Schritt zurück. Das Kind bewegt sich ungestüm. Es will herunter.

Kaum steht es auf dem Boden, läuft es nah an die Kerzen heran und versucht, sie auszupusten. Es ist zu klein, die Flammen flackern lediglich. Erbost schreit es auf. Die Kirche wirft die Stimme von den Wänden. A. und ich lachen leise. Ein alter Mann kommt vorbei: „Ja, haben Sie das Kind denn gar nicht im Griff?“ A. muss lauter lachen. Der Mann dreht sich um: „Und was gibt es da zu lachen?“

„Das ist doch nur ein Kind“, sagt A.

„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“, antwortet der Mann.

Das Kind ruft laut: „Ich bin aber Mia.“ Sie betont jedes Wort. Und dann pustet sie den Mann an, als wollte sie ihn wegblasen.

Er schüttelt den Kopf: „Ihr werdet alle noch sehen, was ihr davon habt.“ Draußen sagt A.: „Wenn ich mal Kinder hab, bringe ich ihnen das mit dem Pusten auch bei.“

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 19.12.2019

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Den Witz kapier ich nicht

Unterwegs stelle ich mich an einer Süßigkeitenbude beim Alex an, um gebrannte Mandeln zu kaufen.

„Ich nehm die gleich so“, sagt die Frau vor mir. Sie ist um die 20, trägt eine Mütze, unter der lange blonde Haare hervorlugen. Der Verkäufer hat einen grauen Schnauzer und reicht ihr kandierte Weintrauben am Stil. Während sie auf ihr Wechselgeld wartet, beißt sie ab. Der Mann sieht ihr zu, gibt das Geld heraus und sagt anzüglich: „Da weiß man als Mann doch gleich, was man bekommt.“

Sie steht mit den Trauben da und schaut ihn an. Irgendwo spielt blechern „Jingle Bells“. „Bitte, was.“ Es ist tonlos und weniger Frage als Bemerkung. „Nix für ungut. War’n Witz.“ Er lacht, als wollte er seinen Witz verifizieren. Es klappt nicht. Sie starrt ihn an: „Kapier ich nicht.“

„Na ein Witz, haste keinen Humor?“ – „Doch. Aber dazu muss ich den Witz kapieren.“ – „Na“, er guckt auf die Weintrauben, dann auf ihren Mund. Sie lässt ihn nicht aus dem Blick. Seiner flackert jetzt. „Alles gut.“ – „Das weiß ich ja noch nicht.“ – „Was“, will er wissen. – „Na, das weiß ich erst, wenn ich den Witz verstanden hab.“ – „Komm schon“, sagt der Schnauzer, „stell dich nicht doof.“

Sie dreht sich zu mir, ihre Augen sind starr vor Wut: „Kapierst du das?“ Ich schüttele den Kopf: „Nee, auch nicht.“ – „Was ist jetzt schlimm daran, uns den Witz zu erklären?“, fragt sie. Da wird er wütend. „Haut ab hier. Aber ganz schnell. Alle beide.“ Im Umdrehen sagt sie ruhig, aber laut: „Blödes Arschloch.“ Während er uns beschimpft, gehen wir und ignorieren die Blicke der Leute. – „Danke für die Hilfe“, sagt sie zu mir. – „Gern, hab ja gar nichts gemacht.“

Wir verabschieden uns. Ich sehe noch, wie die Weintrauben in einem Mülleimer landen, dann verschwindet sie zwischen den Passanten. Und ich denke, dass ich eben echt etwas gelernt habe.

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 13.12. 2019

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Oh Mann, ihr seid so peinlich!

Es ist Freitag, und ich stehe beidmvor dem Regal mit den Reisegrößen. ­Übermorgen ist der 1. Dezember, und ich habe das alljährliche Adventskalenderproblem. Als nicht vorausschauende Mutter habe ich vor Jahren begonnen, meinen Kindern Adventskalender selbst zu basteln. Das bedeutet, sich jedes Jahr für zweimal 24 kleine Dinge entscheiden zu müssen, die sie mögen oder wirklich gebrauchen können. Inzwischen ist das aber gar nicht mehr so leicht.

Da die beiden in diesem Jahr bloß entrüstet guckten, als ich vorsichtig fragte, ob sie vielleicht mal einen coolen gekauften Adventskalender haben wollten statt den ollen Säckchen, stehe ich also wie immer vor dem gleichen Problem. Was tu ich nur rein?

Eine Frau mit einem vielleicht 17-jährigen Sohn steht jetzt neben mir. „Geh doch schon zu Papa“, sagt sie mit verdächtig beiläufiger Stimme. Ich vermute, sie will ihn loswerden. Kann ich verstehen. In der Drogerie muss man in Ruhe gucken können. Der Junge verschwindet um die Ecke, und sie sieht sich die kleinen Tuben Duschzeug aus der Nähe an. Dann geht sie ein Stückchen weiter vor die Kondome, und ich denke: Ach so, deshalb.

„Papa ist schon draußen“, höre ich da die Stimme des Sohns wieder. „Jaja, geh doch zu ihm raus“, ruft sie hektisch, aber zu spät. Der Junge steht schon wieder hinter ihr. „Was machst du denn hier?“, fragt er in einer Mischung aus Entsetzen, Ekel und Scham und sieht mit angewidertem Gesicht von ihr zu der Kondompackung in ihrer Hand.

„Das geht dich gar nichts an“, sagt sie, wird aber blöderweise ein bisschen rot. Der Junge ebenso. Er dreht sich um und sagt im Gehen: „Oh Mann, ihr seid so peinlich.“ Ich muss grinsen. Sie schaut mich an und sagt resigniert: „Da sind 18 Stück in der Packung! Das hätte meinen Adventskalender gerettet!“ 
Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 4.12.2019

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Für
die Spardose

Freitagnachmittag, und in der U9 ist es voll. Eine Frau hält ihre Kinder auf dem Schoß. Der Junge ist etwa vier, das Mädchen sechs Jahre alt. Sie wirken herausgeputzt. Das Mädchen trägt weiße Strumpfhosen unter der Jacke, der Junge neue Schuhe und die Mutter einen Mantel.

Die Türen gehen auf, Menschen schieben sich hindurch. Zwei Männer mit Hund trinken Bier. Ihre Kleidung wirkt abgetragen und schmutzig, einer trägt einen langen Bart. Vielleicht obdachlos, überlege ich.

Der Junge patscht gegen die Stange und ruft „Hundie, Hundie“. Der mit dem Bart wird aufmerksam. „Bouncer, komm ma rum hier.“ Er führt den Hund zu den Kindern, die ihn begeistert streicheln. Das Gesicht der Mutter ist bemüht freundlich. Der Mann bewegt die Ohren des Hundes und imitiert dazu eine Stimme. Es riecht nach Bier. Die Kinder lachen.

„Wie heißt ihr zwei denn?“ Der Mann kramt in seiner Hosentasche. „Emily und Marvin“, antwortet die Mutter knapp. Der Mann schaut auf ein paar Münzen in seiner Hand und steckt jedem Kind ein 2-Euro-Stück zu.

„Hier. Für die Spardose. Oder wat Süßes, wenn Mama das erlaubt.“ Der Kleine strahlt und ruft ganz laut „Dankeschön.“ Das Mädchen schaut die Mutter an.

„Entschuldigung, aber das geht nicht. Das können wir nicht annehmen.“ Die Stimme der Mutter kickst schrill. Auf ihrem Hals sind rote Flecken.

„Keine Ursache. Mach ick gern.“

„Ist nett, aber das ist nicht nötig.“ Sie nimmt den Kindern das Geld aus der Hand und hält es ihm hin. „Nehmen Sie.“

„Nee, echt“, wiederholt er, sieht ihren beschämten Gesichtsausdruck und nimmt das Geld wieder zurück. Sein Blick ist verletzt. Ihrer ebenso. Am nächsten Halt winkt er den Kindern noch mal zu, dann steigen sie aus. 

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 29.11.2019

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Nasenbluter und Postbote

Meine Freundin J. sucht die Liebe auf Tinder. Sobald wir uns sehen, hat sie in der Zwischenzeit mindestens drei Männer getroffen, und ich freue mich jedes Mal auf ihre Fallberichte. Meine Lieblingsgeschichte ist bisher die mit dem Typen, der zur Begrüßung Nasenbluten bekam, als er vor ihr stand.

„Ich war komplett überfordert mit all dem Blut“, erzählte sie, während ich vor Lachen fast meine Schorle über den Tisch gespuckt hätte. Der Nasenbluter, wie wir ihn seitdem nennen, lief dann eine halbe Stunde mit zwei gerollten Taschentuchwürsten in der Nase neben ihr her und tat, als wäre alles ganz normal. Lustig war auch die Geschichte von dem Schriftsteller, der als Postbote arbeitet und erklärte, dass alle großen Literaten Postboten gewesen seien. Bukowski und Herrndorf zum Beispiel.

„Ich war echt offen. Aber dann setzt er sich mit mir in den Park und liest mir richtig schwülstigen Fantasy-Elfenkram vor. Da bin ich einfach aufgestanden und gegangen.“

Wir treffen uns in einer Bar und J. ruft als erstes: „Heute brauche ich Alkohol.“ Ich freue mich und denke, dass mich heute bestimmt eine Knallergeschichte erwartet. Wir bestellen Wein. Und dann sagt sie: „Es tut mir echt leid, aber ich mach jetzt Schluss mit dem Daten.“

„Das gibt’s ja nicht“, rufe ich entgeistert. „Du hast jemand Tolles getroffen!“

„Ach so, nee“, sie winkt ab. „Ich kann nur einfach nicht mehr. Wenn ich so weitermache, brauche ich bald eine Therapie, um alles zu verkraften.“ Ich schaue sie besorgt an. „Alles okay? Ist dir etwas passiert?“

„Aber nein!“ Sie lächelt entschuldigend. „Ich will nur diese Dates nicht mehr. Fange dafür einen Tanzkurs an.“ Und dann sagt sie sehr mitfühlend: „Ich wollte dich nur nicht enttäuschen, wo du doch immer meine aufmerksamste Datingstalkerin warst.“ 

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 21.11.2019

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Auf und davon ins Moor

Ich bin zum ersten Mal in der Wohnung von M. und stehe vor seinem Bücher­regal, während er in der Küche verschwunden ist, um Kaffee zu kochen. Immerhin hat er Bücher. Sogar in einem Regal. Ich denke an T., der genau drei Bücher besaß. Sie klemmten unter dem Sofa anstelle des kaputten Fußes. Als ich ihn deswegen fragend ansah, sagte er: „Dreimal Sart­re. Passte farblich zum roten Sofa.“

Das war also T.

M.s Regal dagegen ist beeindruckend. Es reicht bis zur Decke und ist sehr ordentlich. Die Titel sind nach Genre aufgestellt, durch bedruckte Aufkleber gekennzeichnet und alphabetisch nach Verfasser geordnet. Mein abtrünniges Bibliothekarinnen-Ich grinst kurz peinlich berührt in sich hinein.

Aus der Sparte „Englisch, Klassische Literatur“ ziehe ich eine sehr schöne Ausgabe von Jane Eyre heraus. M. kommt mit einem Tablett herein. „Na?“, sagt er. Ich glaube, er ist irgendwie aufgeregt. „Eins meiner Lieblingsbücher“, sage ich und halte es hoch.

„Ach ja.“ Er lächelt nervös.

„Ich habe dieses Buch so oft gelesen und ich glaube, bei mir ist da auch etwas, das tagelang durch Moor und Heide davonläuft“, sage ich und schaue sehr geheimnisvoll. M. nickt nur, schenkt den Kaffee ein und wischt mit einem Geschirrtuch einen Tropfen vom Tisch. Ich stelle das Buch wieder zurück in das Regal.

Als ich zum Tisch gehe, trägt er einen gequälten Zug um den Mund. Ich setze mich und trinke einen Schluck Kaffee. „Entschuldige bitte, aber das lässt mir sonst keine Ruhe“, sagt er, geht zum Regal und schiebt den Buchrücken von Jane Eyre exakt auf die Höhe der anderen. Jetzt erst sehe ich, dass alle Bücher gleichwinklig und wie mit dem Lineal ausgerichtet stehen. Plötzlich will ich davonlaufen und mir einen Unterschlupf suchen. Weit weg, in Moor und Heide.

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 1.11.2019