berliner szenen

Lest die richtigen Bücher

Ich komme an meiner Lieblingsbücherkiste am Straßenrand vorbei und werfe wie immer einen Blick hinein. Inzwischen steht anstelle der ehemaligen Gemüsekiste eine professionelle Box aus Plastik, die mit einem Hinweis in alter Schreibschrift versehen ist: Geben und Nehmen. Bitte schließen Sie die Klappe.

Finde ich im übertragenen Sinn witzig. Ich überlege jedes Mal, wem diese Box wohl gehört. Während ich darin stöbere, finde ich eine Biografie über Simone de Beauvoir, Brechts Kalendergeschichten und ein Sachbuch über die jüdischen Salons im alten Berlin von Deborah Hertz. Kommt ja wie gerufen, denke ich erfreut, und schiebe die Bücher in meine Tasche, als ich einen älteren Mann hinter mir bemerke. Er nickt mir zu und sagt: „Ich freue mich, wenn es Ihnen gefällt.“

„Ach“, sage ich neugierig, „ist das denn Ihre Kiste?“

„Nein, nein“, winkt der Mann ab. „Nur diese Bücher da. Aber ich kenne die Dame, die sie aufgestellt hat. Sie hat keinen sehr guten Buchgeschmack“, fügt er hinzu und wackelt mit dem Kopf. Er zeigt in die offene Kiste und sagt: „Sehen Sie, Konsalik und Simmel sind von ihr und die liegen seit Wochen wie Blei.“ Ich nicke. „Das ist mir auch schon aufgefallen.“

„Meine Bücher sind immer sofort weg“, bemerkt er nicht ohne Stolz. „Neulich habe ich aus meinem Fenster beobachtet, wie die Dame eins meiner Bücher mitgenommen hat.“ Er lächelt verschmitzt. Ich lächle mit. „Es war etwas nach ihrem Geschmack“, sagt er, „ich ahnte, dass es das Richtige sein würde.“

„Was war es denn?“, frage ich, und er sagt: „‚Im Wendekreis des Krebses‘ von Henry Miller. Seitdem überprüfe ich, ob sie es wieder zurücklegt. Aber es scheint ihr zu gefallen.“ Ich lache. „Nun ja“, sagt er, „irgendetwas muss man ja tun, damit die Leute die richtigen Bücher lesen.“ 

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 20.06.2020

berliner szenen

Irgendwie mehr Irre unterwegs

Es ist Nacht und ziemlich kühl. Ich trage den Schal von der Freundin, die ich gerade besucht habe, und ziehe mehrere Ziegelsteine in ihrem ramponierten Einkaufs­trolley hinter mir her. Der Trolley verliert ungünstigerweise immer ein Rad, das ich nach jedem Bordstein wieder anstecken muss. Ich ziehe den Wagen durch die dunklen Straßen, die Steine darin wackern über dem Kopfsteinpflaster vor sich hin und ich muss mehrmals kichern, weil die Situation etwas absurd ist.

Wenn mir Leute entgegenkommen, schauen sie auf den Boden, was ich merkwürdig finde, aber ich bin ja mit der Fuhre und dem Rad beschäftigt. Der Trolley ist mit acht Steinen leicht überfordert und bei jeder Unebenheit befürchte ich, er könnte zusammenbrechen.

Die Ziegelsteine brauche ich für meine Balkonterrasse. Ich will mir nämlich daraus und aus ein paar Steinplatten ein Kräuterregal bauen, und da die Freundin gerade eine Altbauwand eingerissen hat und ich mich nach Herzenslust bedienen durfte, wollte ich die Steine auch direkt mit nach Hause nehmen.

Eine Gruppe von Jugendlichen kommt mir entgegen. Sie halten Bierflaschen in der Hand und als ich ihnen näher komme, schauen auch sie wie auf Kommando auf den Boden. Kurz nachdem ich sie passiert habe, ruft einer: „Hallo, wollen Sie meine Flasche haben?“

Ich bleibe stehen, das Rad fällt ab, und während ich es aufstecke, schaue ich hoch und sage: „Wie bitte?“

„Meine Pfandflasche“, sagt der junge Mann und hält sie mir entgegen. Die anderen hinter ihm gucken auf ihre halbleeren Flaschen und dann wieder zu mir.

„Ach so“, sage ich, „nein, ich sammle keine Flaschen. Ich fahre nur Ziegelsteine durch die Gegend.“

„Okay“, sagt der Typ, und als sie weitergehen, meint ein anderer: „Irgendwie sind mehr Irre unterwegs als vor Corona, oder?“ 

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 06.06.2020

berliner szenen

Warmes Glück mit Max Frisch

Ich gehe sehr gern spazieren. Entweder mit einem festen Ziel vor Augen oder ich gehe einfach nur in der Gegend herum, biege mal hier mal da ab, laufe auf der Sonnen- und mal auf der Schattenseite und lasse mich durch den Bezirk treiben.

In letzter Zeit finde ich bei meinen Spaziergängen immer schöne Sachen. Überall stehen Kartons mit dem Hinweis „Zu verschenken“, weil die Leute gerade Zeit haben, ihre Schränke aufzuräumen. Ich habe also schon ein Kaffeegeschirr und viele Bücher eingeheimst, darunter „Die Dämonen“ von Dostojewski in einer schöneren Ausgabe als meine, Sartres Essay „Baudelaire“ und Watzlawicks „Vom Schlechten des Guten“.

Heute laufe ich ein bisschen weiter hinter den Volkspark. Wieder steht da ein Karton neben ein paar Taschen mit Klamotten, einer halb vertrockneten Palme und einem Wäscheständer. Ich sehe in den Karton und kann es nicht glauben. Im Karton liegt quasi die perfekte Erweiterung meines eigenen Bücherregals. Die mir noch fehlenden Bände von Knausgård, Judith Hermanns Roman „Aller Liebe Anfang“, den ich noch nicht kenne, „Drei Frauen“ von Musil, die Gesamtausgaben von Joseph Roth und Max Frisch. Ich bekomme warme Glücksgefühle und will sie alle. Der Weg nach Hause ist weit, die Bücher sind nicht gerade leicht, aber egal, denke ich und hebe den Karton auf meinen Kopf.

Ein paar Meter die Straße entlang bin ich eine überglückliche Büchersammlerin. Da höre ich eine Stimme hinter mir: „Eh! Hallo, sorry, aber das ist unser Karton.“ Ich drehe mich um. Ein Typ steht vor mir. „Das da ist die letzte Kiste vom Umzug.“ Ich setze sie ab, schäme mich, muss lachen, erkläre und entschuldige mich. Er winkt ab. „Meinetwegen hättste die mitnehmen können. Meine Freundin hat echt genug Bücher. Keine Ahnung wo die alle hinsollen.“ 
Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 30.05.2020

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Sie merken wohl gar nichts

Nach einer Woche zu Hause gehen meine Tochter und ich einkaufen. Ein wenig kommt es uns vor, als würden wir einen Ausflug machen. Wir gehen in den Buchladen, in den Supermarkt, und dann kaufen wir in einem Sanitätshaus ein ergonomisches Sitzkissen. Mit der Verkäuferin verabreden wir, es etwas später abzuholen. Uns ist noch die Sache mit dem fehlenden Klopapier eingefallen.
Als meine Tochter und ich ohne Klopapier, aber wieder mit unseren schweren Taschen vor dem Laden stehen, kommt uns ein genervter Paketbote entgegen. Durch die Scheibe sehe ich eine Kundin im Laden. Das Schild an der Tür besagt: Bitte nur zwei Kunden. Gut, denke ich und öffne die Tür des Ladens, bleibe aber mit den Taschen im offenen Eingang stehen.
Die Kundin schaut mich böse an: „Muss das jetzt sein, dass Sie hier noch reinkommen?“, herrscht sie mich an. Sie trägt eine Kappe und ein saures Gesicht, ihr Mund ist verkniffen. „Ho“, sage ich und hebe meine Hände, als würde ich ein wildes Pferd besänftigen wollen. „Ich will nur etwas abholen.“
„Sie merken wohl gar nichts“, sagt sie schnippisch. „Keine Panik, Sie stehen mehr als zwei Meter von mir entfernt.“
„Ich bin gar nicht panisch“, ruft sie gellend. „Na dann ist ja gut“, sage ich.
Die Verkäuferin reicht mir das Sitzkissen und schaut mich bedeutungsvoll an. „Dann noch einen schönen Tag, und bleiben Sie gesund“, rufe ich und winke extra noch mal mit meinem pinkfarbenen Handschuh. Die Panische brummelt missmutig. Draußen sagt meine Tochter: „Die hatte weder Mundschutz noch Handschuhe, meckert aber rum.“
„Macht uns nichts“, sage ich und küsse sie auf die Stirn. Ein Mann beobachtet uns und wirft mir einen rügenden Blick zu. Ich freue mich wirklich schon wieder auf zu Hause. 

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 26.05.2020

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Sieht aus wie eine Coronaparty

Es ist später Nachmittag und ich laufe mit den Einkäufen für meine Mutter durch die kleinen Straßen. Inzwischen nehme ich aus Gründen der Abwechslung jedes Mal andere Wege zu meinen immer gleichen Zielen, dem Supermarkt, der Wohnung meiner Mutter oder der meiner Großmutter.
Die Sonne scheint, und es ist warm. Ich habe meine Sonnenbrille aufgesetzt und vor lauter Frühlingsgefühlen nackte Beine unter meinem Rock. Sie leuchten bei jedem Schritt wie weißer Spargel und ich schaue den Entgegenkommenden erwartungsfroh ins Gesicht. Aber nichts – niemand schaut zurück. Man macht bloß einen großen Bogen umeinander, und in dem Moment, in dem man sich sonst angesehen hätte, schauen die anderen zu Boden.
Ich bin seltsam enttäuscht. Dass Social Distancing auch den Blickkontakt betrifft, finde ich traurig.
Als ich eine große Straße überquere, stehen da auf dem mittleren Grünstreifen zwei Männer in Zweimeterabstand voneinander vor den Blumenrabatten. Beide halten eine Bierdose in der Hand und blicken sinnierend in die lila und gelben Stiefmütterchen. Das Bild ist niedlich. Im Vorbeigehen sehe ich vielleicht etwas zu lange hinüber, und da sieht der eine auf, hebt seine Dose und prostet mir zu.
„Prost. Sieht aus wie eine Coronaparty“, rufe ich und lache.
„Noch nicht“, antwortet der Zuproster.
„Erst wenn Sie dazukommen. Wir haben sogar noch ’n Bier.“
„Und ’ne schöne Aussicht“, ruft der andere und zeigt mit der Dose auf die Blumen.
„Sehr verlockend“, sage ich, „vielleicht ein anderes Mal.“
„Wir freun uns drauf“, ruft der Erste, und ich wünsche den beiden noch einen schönen Abend. Als ich weitergehe, muss ich lachen, weil ich mich doch wirklich gern dazugesellt, ein Dosenbier getrunken und mit den beiden auf die Blumen auf dem Mittelstreifen geguckt hätte.

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 09.05.2020

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Im schwarzen Loch

Meine Freundin W. ruft früh am Abend an. „Ich bin müde“, sagt sie gleich zu Beginn. „Müde vom Nichtstun. Wenn das so weitergeht, bin ich bald insgesamt nur noch acht Stunden wach, aber die in der Nacht“, sagt sie. „Tagsüber schlafe ich. Gerade bin ich aufgewacht.“
„Auch eine Variante von die Nacht zum Tag machen“, finde ich. Sie gähnt.
„Es passiert ja aber auch nichts“, sagt sie. „Wenn ich aus dem Fenster sehe, läuft kaum jemand vorbei, nur ab und an mal einer mit Hund oder ein Fahrradfahrer mit Helm und Maske. Langweilig. Dann liege ich manchmal bloß so da und höre einer Fliege zu.“ Ich gähne jetzt auch. „Und wenn ein Auto vorbeifährt, erschrecke ich mich.“
„Mmmh“, mache ich.
Es ist still. Ich höre die Uhr ticken und draußen einen Vogel schreien.
Am Fenster sehe ich in den dunklen Baum gegenüber. Die Blätter bewegen sich träge, es geht ein nur milder Wind.
„Tja“, sage ich und lasse mich auf mein Sofa fallen, schiebe mir ein Kissen unter den Kopf und sehe zur Zimmerdecke. Meine Deckenlampe sieht von unten aus wie ein Blumenstrauß mit fünf Blüten. Je länger ich auf sie starre, desto mehr scheinen die fünf Elemente leicht zu pendeln, es sieht aus, als würden ihre Köpfe wackeln. Sie nicken mir zu. Ich schließe die Augen.
W. fragt: „Findest du auch, dass sich die Zeit verändert? Alles wird langsamer, dabei aber viel schneller. Vielleicht sind wir in einem schwarzen Loch. Hast du darüber schon mal nachgedacht?“ Ich antworte nicht.

Als ich wieder aufwache, hat W. aufgelegt. Stattdessen wartet da eine Nachricht von vor zwei Stunden: „Ich glaube, es ist mir noch nie passiert, dass jemand einschläft, während ich mit ihm telefoniere. Hab es auch erst echt spät kapiert. Physikalische Themen sind wohl nicht so deine, was?“ 

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 06.05. 2020

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Sellerie. Für die Suppe oder so

Ich stehe in der Schlange vor dem Biomarkt, wieder in der Hoffnung, Rote Linsen zu bekommen. Die gibt es seit Wochen nirgendwo zu kaufen. Ich lehne mich an einen Poller und recke mein Gesicht in die Sonne. Unter meinem Tuch über Mund und Nase wird es warm.
„Hallo“, höre ich eine weibliche Stimme neben mir. „Ach, hallo“, lautet die Antwort. Ihre Stimme klingt müde. Ich sehe zu ihnen herüber. Die Frau zwei Meter neben mir trägt eine rote Jacke, die nächste in der Reihe eine grüne OP-Maske und einen Korb im Arm.
„Wie geht es bei euch?“, fragt die mit der roten Jacke.
„Ach na ja, ist alles viel. Die Arbeit, und mit T. wird es ­immer schlimmer. Ich mach alles falsch. Er sagt mir, wie ich die Waschmaschine zu befüllen habe und wann ich das Licht ausmachen muss oder dass ich nicht jeden Tag duschen soll. Gestern hat er mir das Essen entgegengeschmissen.“
„Du musst da jetzt raus“, sagt die andere.
„Hm.“
Die Schlange kommt in Bewegung. Der Mann vor mir wird in den Laden gelassen.
„Du brauchst ein Codewort“, sagt die mit der Jacke. „Wenn du mich anrufst, weil du es nicht mehr aushältst.“
„Und was dann?“ Es klingt mutlos.
„Dann sagst du, du gehst einkaufen, und kommst stattdessen zu mir.“
Die mit der Maske macht ein Geräusch. Ihre Augen sind gerötet.
„Das kriegen wir doch hin. Sag am Telefon einfach, du brauchst …“, die mit der roten Jacke überlegt, „… Sellerie. Für die Suppe oder so. Dann weiß ich Bescheid.“
Die Augen über der Maske sind zweifelnd. „Ich brauch nie Sellerie.“
„Dann schon“, meint die mit der roten Jacke bestimmt. „Aber so was von.“
Der Mitarbeiter winkt mich in den Laden. Es gibt auch hier keine Roten Linsen mehr. Aber auf einmal ist das mehr als egal. 

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 04.04.2020

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Das war der Liebhaber

Ich stehe auf dem Friedhof vor dem Grab meines Vaters. Großmutter hat mich gebeten, die Tannenzweige abzudecken, „damit der Frühling kommen kann“.
Die Sonne scheint, aber der Wind ist kalt, und mein Empfinden entspricht insgesamt nicht ganz dem üblichen Frühlingsgefühl. In der Reihe gegenüber steht ein älterer Mann vor einem frischen Grab mit Blumen und Kränzen. Er trägt Handschuhe und hält seine Hände gefaltet. Ich überlege, ob er betet.

Als er hochsieht, nicken wir uns zu. Ich decke die Tannenzweige ab und trage sie zu dem großen Metallkorb. Beim Umdrehen bemerke ich den Mann mit einem Kranz im Arm in einigem Abstand hinter mir. Er wartet. Ich lächle ihn an. Er deutet auf den Kranz und sagt: „Ich muss den mal entsorgen.“ Ich nicke und trete ein paar Meter zur Seite. Er wirft den Kranz in den Korb und zeigt auf die rosa Schleife: „Das war der Liebhaber“, sagt er. „Bitte?“, frage ich, weil ich annehme, ich habe mich verhört. „Der da“, sagt er, „hatte ein Verhältnis mit meiner Frau, wie ich jetzt herausgekriegt habe.“ „Oh“, sage ich und überlege hektisch, was man in so einem Fall erwidert. Er sieht mich an: „Da denkt man über Jahrzehnte, man führt eine gute Ehe, und am Ende wird aus Briefen unterm Bett klar, dass man sie zu dritt geführt hat.“ „Das tut mir leid“, sage ich und stecke meine Hände in die Manteltaschen. „Ach na ja“, meint er, „ich habe schon gedacht, wer weiß, wie es sonst geworden wäre. Ohne den. Aber auf dem Grab muss er nicht auch noch auf ihr liegen.“
Er lacht. Ich auch. Wir lachen einen Tick zu lang, dann schauen wir uns an. „Bleiben Sie gesund“, sagt er. „Ist jetzt noch wichtiger als ohnehin schon.“ „Ich versuche es“, sage ich und wünsche ihm alles Gute. Im Gehen drehe ich mich noch mal um und sehe, wie er mit einer Harke auf den Kranz eindrischt. 
Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 28.03.2020

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Solidarität der Alten und Jungen

Im Supermarkt ist es voll. Alle haben beladene Einkaufswagen und decken sich mit Haltbarem ein. Ein Mann mit mehreren Paletten Tomatendosen belächelt eine Frau mit zwei Tüten Klopapier. Beim Gemüse suche ich den Chicorée, als ich eine aufgeregte Stimme höre: „Mama! Was soll denn das? Was machst du denn? Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht mehr rausgehen!“
Die Stimme der Tochter dringt über den Lautsprecher aus dem Telefon einer älteren Frau, die neben ihrem Einkaufswagen mit dem Zeigefinger auf ihrem Handy herumdrückt. „Hallo“, ruft sie in das Handy rein und dann empört: „Aber ich muss doch mal rausgehen und was einkaufen können. Ich kann doch nicht immer zu Hause sitzen!“
„Ich habe dir doch gesagt, dass ich das für dich mache. Schreib eine Liste mit allem auf, ich besorge dir das.“ Die Tochter klingt richtig sauer. „Jetzt geh sofort nach Hause. Das ist alles kein Spaß.“ Die alte Frau legt murrend einfach auf. Dann sieht sie eine andere ältere Frau an, die wie ich das Gespräch mitverfolgt hat, und ruft laut: „Unverschämtheit. So muss man sich jetzt von den eigenen Kindern behandeln lassen. Die wollen uns Alte einfach wegsperren. Die spinnen doch.“
Die andere Frau wackelt bedenklich mit dem Kopf. „Aber es ist schon richtig, was sie sagt. Man soll nicht mehr rausgehen in unserem Alter.“ „Ach, und was machen Sie dann noch hier?“, blafft die Erste. „Ich habe niemanden, der sich kümmert“, antwortet die andere. Sie sagt es sachlich, ohne Selbstmitleid oder Bedauern. Es ist eine gewohnte Tatsache.
Die empörte Frau schaut sie jetzt über den Rand ihrer Brille hinweg an. Dann sagt sie: „Sehen Sie, wie gut, dass Sie mich hier getroffen haben. Schreiben Sie mal Ihre Adresse auf. Ich werde meiner Tochter sagen, die soll Ihnen die Einkäufe auch vorbeibringen.“ 

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 16.03.2020

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Jetzt jeht’s aber los mit der Demenz

Im Supermarkt sitzt meine Lieblingskassiererin an der Kasse. Eine Frau mit roten kurzen Haaren, immer andersfarbig glitzernden Fingernägeln und einem verschmitzten Gesichtsausdruck. Sie zieht meine Einkäufe über den Scanner und fragt: „Haben Sie eine – na, wie heißt dit gleich? Na eine …“ Sie guckt genervt. „Jibt’s doch nich, da hab ick jetzt doch schon Wortfindungsstörungen.“ Sie stöhnt. „So eine Payback-Karte?“, versuche ich zu helfen. „Jenau“, sagt sie erleichtert. „Mensch, danke schön.“
Ich schüttele den Kopf. „Habe ich aber nicht.“ Sie schüttelt auch den Kopf, murmelt dabei: „Jibt’s echte ma nich. Manchmal denk ick, jetzt jeht’s aber los mit der Demenz.“
„Ach was“, sage ich, „mir fallen auch oft nicht die richtigen Wörter ein.“
„Ja, also meinen Se, is allet noch im normalen Rahmen, ja?“ Ich nicke bestimmt.
„Aber Weglauftendenzen hab ick och“, sagt sie dann. „Vor allem wenn ich mir dis Chaos hier zurzeit so ankiecke.“ Sie macht eine Handbewegung in den Laden hinein. Ich lache. „Wenn es danach geht – ich habe andauernd Weglauftendenzen.“
„Na jut.“ Sie atmet hörbar auf. „Und ’ne Uhr könn wa beide och noch malen, wa? Dann is wohl wirklisch noch allet in Ordnung.“
Wir lachen beide, ein älterer Herr in der Reihe hinter mir kichert mit. „Ja, ja“, seufzt er dann, „wenn es wirklich losgeht, stellt man sich diese Fragen gar nicht mehr. Da hat man die Anzeichen dafür nämlich alle vergessen.“ Wir lachen alle drei.
„Dit is jut“, findet die Kassiererin. „Also können wa uns mal alle schön entspannen.“ Finden wir alle gut. „Dann schüß und schön jesund bleiben“, sagt die Kassiererin noch zu mir. „Ebenso und einen schönen Abend“, wünsche ich.
Draußen grinse ich immer noch. Irgendwie mag ich Supermarktbesuche grad sehr. 

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 09.03.2020