berliner szenen

Solidarität der Alten und Jungen

Im Supermarkt ist es voll. Alle haben beladene Einkaufswagen und decken sich mit Haltbarem ein. Ein Mann mit mehreren Paletten Tomatendosen belächelt eine Frau mit zwei Tüten Klopapier. Beim Gemüse suche ich den Chicorée, als ich eine aufgeregte Stimme höre: „Mama! Was soll denn das? Was machst du denn? Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht mehr rausgehen!“
Die Stimme der Tochter dringt über den Lautsprecher aus dem Telefon einer älteren Frau, die neben ihrem Einkaufswagen mit dem Zeigefinger auf ihrem Handy herumdrückt. „Hallo“, ruft sie in das Handy rein und dann empört: „Aber ich muss doch mal rausgehen und was einkaufen können. Ich kann doch nicht immer zu Hause sitzen!“
„Ich habe dir doch gesagt, dass ich das für dich mache. Schreib eine Liste mit allem auf, ich besorge dir das.“ Die Tochter klingt richtig sauer. „Jetzt geh sofort nach Hause. Das ist alles kein Spaß.“ Die alte Frau legt murrend einfach auf. Dann sieht sie eine andere ältere Frau an, die wie ich das Gespräch mitverfolgt hat, und ruft laut: „Unverschämtheit. So muss man sich jetzt von den eigenen Kindern behandeln lassen. Die wollen uns Alte einfach wegsperren. Die spinnen doch.“
Die andere Frau wackelt bedenklich mit dem Kopf. „Aber es ist schon richtig, was sie sagt. Man soll nicht mehr rausgehen in unserem Alter.“ „Ach, und was machen Sie dann noch hier?“, blafft die Erste. „Ich habe niemanden, der sich kümmert“, antwortet die andere. Sie sagt es sachlich, ohne Selbstmitleid oder Bedauern. Es ist eine gewohnte Tatsache.
Die empörte Frau schaut sie jetzt über den Rand ihrer Brille hinweg an. Dann sagt sie: „Sehen Sie, wie gut, dass Sie mich hier getroffen haben. Schreiben Sie mal Ihre Adresse auf. Ich werde meiner Tochter sagen, die soll Ihnen die Einkäufe auch vorbeibringen.“ 

Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 16.03.2020