Auf und davon ins Moor
Ich bin zum ersten Mal in der Wohnung von M. und stehe vor seinem Bücherregal, während er in der Küche verschwunden ist, um Kaffee zu kochen. Immerhin hat er Bücher. Sogar in einem Regal. Ich denke an T., der genau drei Bücher besaß. Sie klemmten unter dem Sofa anstelle des kaputten Fußes. Als ich ihn deswegen fragend ansah, sagte er: „Dreimal Sartre. Passte farblich zum roten Sofa.“
Das war also T.
M.s Regal dagegen ist beeindruckend. Es reicht bis zur Decke und ist sehr ordentlich. Die Titel sind nach Genre aufgestellt, durch bedruckte Aufkleber gekennzeichnet und alphabetisch nach Verfasser geordnet. Mein abtrünniges Bibliothekarinnen-Ich grinst kurz peinlich berührt in sich hinein.
Aus der Sparte „Englisch, Klassische Literatur“ ziehe ich eine sehr schöne Ausgabe von Jane Eyre heraus. M. kommt mit einem Tablett herein. „Na?“, sagt er. Ich glaube, er ist irgendwie aufgeregt. „Eins meiner Lieblingsbücher“, sage ich und halte es hoch.
„Ach ja.“ Er lächelt nervös.
„Ich habe dieses Buch so oft gelesen und ich glaube, bei mir ist da auch etwas, das tagelang durch Moor und Heide davonläuft“, sage ich und schaue sehr geheimnisvoll. M. nickt nur, schenkt den Kaffee ein und wischt mit einem Geschirrtuch einen Tropfen vom Tisch. Ich stelle das Buch wieder zurück in das Regal.
Als ich zum Tisch gehe, trägt er einen gequälten Zug um den Mund. Ich setze mich und trinke einen Schluck Kaffee. „Entschuldige bitte, aber das lässt mir sonst keine Ruhe“, sagt er, geht zum Regal und schiebt den Buchrücken von Jane Eyre exakt auf die Höhe der anderen. Jetzt erst sehe ich, dass alle Bücher gleichwinklig und wie mit dem Lineal ausgerichtet stehen. Plötzlich will ich davonlaufen und mir einen Unterschlupf suchen. Weit weg, in Moor und Heide.
Isobel Markus, Berliner Szenen der Taz, 1.11.2019