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Querleben

Liebst Du mich, fragte sie und sie fragte es immer wieder. Sie fragte es morgens nach dem Aufwachen und abends vor dem Einschlafen, sie fragte es zwischen zwei Bissen von ihrem Teller, zwischen zwei Tabletten, zwischen zwei Seiten ihrer Lektüre und auf dem Kopfkissen in der Nacht zwischen zwei Träumen. Sie fragte es, ohne auf seine Antwort zu warten oder seine Antwort zu erwarten.

Es war wie ein Zwang und dieser hatte sich in ihren gemeinsamen Alltag gefügt, wie eine Zutat zu einem ihrer Kuchen. Eine Zutat, die nicht im Rezept stand, aber nach all den Jahren aus ihrem Teig nicht mehr wegzudenken war. Dachte er.

Er antwortete also schon lange nicht mehr. Er sah sie nicht an, wenn sie es fragte, er zeigte keine Reaktion. Und sie erwartete diese nicht, fuhr stattdessen mit dem fort, was sie tat, ohne einzuhalten, ohne den Anschein zu erwecken, sie hätte überhaupt etwas gesagt. Die Frage eine rhetorische Hülse. Eine Frage wie: Hallo wie gehts. Was macht das Leben.

Ja, was machte das Leben, dachte er und goss die Geranien so großzügig, dass es von oben auf den Gehweg tropfte. Es tropft vor sich hin, das Leben.

Morgens waren die Ringe unter den Augen dick und die Beine schmerzten. Sein Ehering grub sich tief in den Finger und er dachte, dass sie ihn wohl losschneiden müssten von dem Gold der Jahre. Abziehen konnte er ihn seit Jahrzehnten nicht mehr.

Die Tochter kam und telefonierte mit dem Sohn, um das Fest zu besprechen. 50 Jahre, sagte sie aufgeregt und ehrfürchtig, das schafft kaum noch jemand. Sie schaute munter und ambitioniert, mit der Feier ihre eigene Ehe wiedergutzumachen, die sie weggelegt hatte wie ein Buch, das ihr zu anspruchsvoll oder zu uninteressant erschien. Dabei war das Ende noch nicht abzusehen gewesen. Vielleicht hätte es sie überrascht, dachte er und schaute ungehalten.

Es passte ihm nicht, das Fest und all die Fragen, die er nicht hören wollte: Hallo wie gehts, Was macht das Leben, Liebst Du mich. Er stand auf und nahm den Hut, verließ die Wohnung und auf dem Weg in den Park stellte er sich den fragenden Blick der Tochter vor, der dem der Frau wie aus dem Gesicht geschnitten war. Wieso nur fragte sie es immer wieder, wobei ihr seine Antwort doch klar sein musste.

Die Irma ist ein gutes Mädchen, hatte seine Mutter gesagt und sich die Hände an der Schürze getrocknet. Da war sie also, die Irma. Damals ein pausbäckiges Ding mit blonden Locken und gepunkteten Kleidern. Sie küsste akkurat. Akkurat und leidenschaftslos. Hinterher wischte sie sich verstohlen den Mund ab und lächelte dann verschämt.

Ja, die Irma war ein gutes Mädchen, dachte er.

Als die Kinder da waren, hörten sie auf zu küssen. Er ging früh ins Kontor und wenn er spät wiederkam, war er müde, aß und las die Zeitung. Sie stellte Fragen, die er nicht beantwortete. Am Wochenende gingen sie mit den Kindern im Park spazieren oder in den Zoo. Als die Kinder ausgezogen waren, aßen sie Kuchen mit dem Blick auf den Zoo. Einmal im Jahr fuhren sie in die Berge, die Familie besuchen. Eigentlich wollten sie lieber ans Meer, aber nebeneinander in den Bergen blieb keine Zeit dafür. Alles war zu schnell gegangen.

Schnell, wie beim Querlesen eines Romans, dachte er jetzt auf der Bank und sah sich ein junges Pärchen an, Hand in Hand auf dem Rasen, die Gesichter in die Sonne gestreckt.

Er las seit langem nur noch diagonal, damit er all die Lektüre, die es zu lesen galt, noch schaffte in der Zeit, die ihm bleiben würde. Kurz bekam er Angst, es könnte ihm nicht mehr genug Zeit bleiben.

Er überlegte, ob er die Bücher nicht richtig verstanden hatte, weil er nicht jedes Wort las und er überlegte, ob es ihm mit dem Leben ähnlich ergangen war. Querleben, dachte er und fand es jetzt schade, dass man die Stunden nicht einzeln gelebt hatte. Als hätte immer ein nächstes Leben neben seinem Bett im Stapel gewartet, und noch eins und noch eins, das es zu leben galt. Aber das hier war sein Einziges.

Zu Hause warf er den Hut auf das Sofa und sagte zu der Tochter: Wir werden nicht feiern. Wir fahren ans Meer, deine Mutter und ich.
Und zu Irma gewandt sagte er: Und nur, dass du es weißt: Die Antwort ist immer wieder JA.

Isobel Markus