Andere Geschichten

Der gelbe Gunther

Unten am Hügel steht Gunther in seinem Parka und winkt mit einem dicken Arm wie einer, der ertrinkt. Wie jeden Morgen verfluche ich diesen Moment. Und wie jeden Morgen habe ich keine Wahl.
Ich sehe absichtlich nicht hoch, stelle mich taub und blind, beobachte das Gehen meiner Füße, links vor, rechts vor, und ich weiß, wie er da steht mit dem nach hinten gelegten Kopf, eine Hand am Träger des Rucksacks, die andere hocherhoben.

Gunther leuchtet wie ein gelbes Ausrufezeichen inmitten des Grüns der Bäume, die den Knick der Straße verdecken, sodass es aussieht, als würde sie nirgendwohin führen. Ich würde ihn überall erkennen, um ihn nicht bemerken zu müssen. Und ihm geht es genauso mit mir. Aber Gunther wartet auf mich. Jeden Morgen.
Alles an Gunther ist gelb. Gunther ist nicht blond, er ist gelb. Seine Haut ist käsig und er trägt dieselbe, gelbe Cordhose jeden Tag. Wenn er aufhört zu winken, hält er die Hand an die Stirn, um die fettige gelbe Strähne zurück zu halten, die ihm in das Gesicht springt und das Maulwurfsauge bedecken will. Gunther hat ein großes und ein kleines Auge.
Jetzt aber winkt er noch.
Du bist spät!, ruft er und ich konzentriere mich stoisch auf das Pflaster, das im frühen Sonnenlicht glitzert. Ohne hinzuschauen sehe ich, wie mich seine vorstehenden Zähne anlachen. Ich höre, wie er neben mir schnauft und kann noch immer nicht hochschauen. An manchen Tagen schaue ich auf meine Füße bis wir uns auf dem Schulhof verabschieden, weil er einen anderen Eingang nimmt. Gunther ist nicht in meiner Klasse.
Gunther gluckst, erzählt etwas von dem Modellbauschiff, das er mit seinem Vater baut. Ich höre nicht zu, versuche seine Zischlaute auszublenden, denke an ein Lied, das vorhin in der Küche im Radio lief. Aber seine Stimme quetscht sich dazwischen, schmiert sich in meinen Kopf und richtet bleibende Verklebungen an.
Einmal habe ich versucht, darüber mit Mutter zu reden. Habe versucht, ihr zu sagen, dass es nicht geht. Das mit Gunther und mir und diesen 20 Minuten auf dem Weg, der nicht enden will. Es war Sonntag und sie hat das Messer weggelegt und sich die Hände am Geschirrtuch abgewischt. Dann kam sie zu mir und legte mir eine kühle Hand an die Wange. Ihre Finger rochen nach Zwiebel und ihr Blick war mitleidig, aber das Mitleid galt nicht mir. Es galt dem gelben Gunther: Tu mir den Gefallen, Armin. Er hat doch nur dich und er braucht einen Freund nach der Sache, sagte sie, drehte sich um und fuhr fort, Zwiebeln zu schälen. Dann sagte sie: Es wäre schön, wenn du für ihn da sein könntest.
Seit der Sache war sie stiller geworden und sie kochte jedes Wochenende. Einen Teil davon brachte sie zu Gunther und seinem Vater. Sie zog sich ihren hellen Mantel über und malte sich vor dem Spiegel im Flur die Lippen an. Aus meinem Zimmer konnte ich sehen, wie sie die Straße herunterlief, die Schüssel in den Händen. Ihre Locken wippten beim Gehen. Meist blieb sie länger drüben. Wenn sie wiederkam, waren ihre Wangen gerötet und ihre Augen glänzten.
Einmal fragte ich: Was machst du da so lange?, und sie sagte abwesend: Nichts weiter.
Das war in der Zeit, als die Ausflüge zu viert begannen.
Gunthers Vater versuchte, nett zu mir zu sein. Er hielt zwei Modell-Flugzeuge im Arm und bot mir eines an. Es hatte gelbe Flügel und Gunther und ich ließen die Flieger über die Felder sausen, bis sich meiner in einem Baum verfing und nicht mehr zu retten war. Es tat mir nicht leid.
Schwuletten, haben sie am Anfang in der Klasse gerufen und mir versucht, in die Eier zu kneifen. Ich habe mich jede Pause kloppen müssen, damit sie aufhörten. Eine Staubwolke und die anderen Kinder umringten uns, bis der Lehrer kam und uns hart am Arm auseinander zog. Zu Hause gab es Briefe und Ärger deswegen. Mutter fragte, was da los sei. Ich antwortete nicht. Ich wollte nicht, dass sie wieder still wurde.
Auf dem Schulhof spiele ich Fußball. Gunther spielt kein Fußball, deshalb habe ich Glück. Manchmal, wenn es regnet und zur Pause abklingelt, kommt er mir auf dem Flur entgegen. Er hält sein Brot mit beiden Händen, so dass die Butter herausquetscht. Aus seiner Brotbox riecht es nach Banane. Ich hasse Banane. Wenn er redet, sieht man den gelben Matsch in seinem Mund.
Gunther redet nicht über die Sache vor einem Jahr.
Er kann nicht, Armin, sagt Mutter und ich denke: Ich kann auch nicht mehr.
Es war mitten in der Nacht damals und ich war aufgewacht, weil ich Stimmen gehört hatte. Mutter klang aufgeregt und ich hörte Gunthers Vater.
Als ich die Treppe herunterkam, sah ich wie er vor ihr stand und sie am Arm und an der Hüfte hielt. Er sagte: Lass es gut sein.
Sie hatte die Hände vor den Mund geschlagen und machte merkwürdige Geräusche.
Ich sagte nichts, stand nur da und sah ihnen zu, bis sie mich bemerkten. Mutter kam auf mich zu. Ihre Augen waren rot, sie nahm mich in den Arm und drückte mich zu fest. Es tat weh und ich machte mich los. Ist etwas passiert?, fragte ich, aber sie schluchzte nur. Ich beobachtete, wie ihr die Tränen über das Gesicht liefen.
Gunthers Vater sagte nichts und ging leise zur Tür.
Mutter brachte mich ohne ein Wort wieder nach oben und im Bett versuchte ich, das Dunkel meiner Gedanken im Dunkel des Zimmers verschwinden zu lassen. Es gelang mir erst, als das Licht den Vorhang orange färbte.
Am nächsten Morgen wartete Gunther nicht auf mich. Auch nicht in den nächsten Wochen.
Sie erzählten, dass es sehr schnell gegangen sei. Der Zug würde an der Stelle der Strecke Fahrt aufnehmen und Gunthers Mutter hätte keine Chance gehabt.
Als Gunther wieder begann, auf mich zu warten, redete er nicht. Und ich wusste nicht, was ich hätte sagen können. In der Schule mieden ihn die anderen. Sie sahen ihn noch nicht einmal an. Sie taten, als wäre er Luft. Und ich spielte Fußball.
Hast du schon gehört?, fragt Gunther jetzt und irgendetwas in seiner Stimme lässt mich aufschauen.
Ich sehe ihm von der Seite ins Gesicht und bevor er es sagt, weiß ich, dass es alles verändert.
Er sieht auf seine Füße, links vor, rechts vor. Dann bleibt er stehen und schaut über meine Schulter zurück:
Vater streicht am Wochenende die Wände oben in den Zimmern. Du kannst dir aussuchen, in welcher Farbe du dein Zimmer möchtest.
Isobel Markus